Seelische und spirituelle Prozesse - Veränderung Stellenwert der Spiritualität in Psychotherapiekreisen.
von Dr. Sylvester Walch -
Durchbruch zum Menschsein - Wie sich der Stellenwert der Spiritualität in Psychotherapiekreisen veränderte.
Vor etwa dreißig Jahren hat sich ein junger Mann dazu entschlossen, sich für eine psychotherapeutische Ausbildung zu bewerben. Er musste, wie es damals üblich war, Aufnahmeinterviews absolvieren. Im Verlauf des Gesprächs kam von einem Beisitzer die Frage auf, ob er denn religiös sei: Er antwortete etwas verschämt: „Ja, ich bin in einer spirituellen Gemeinschaft und wir meditieren regelmäßig.“
Ergebnis des Aufnahmeinterviews: Angenommen mit der Auflage, vorher 50 Stunden Einzeltherapie zu machen, um die religiöse Abhängigkeit zu bearbeiten.
Das Bedürfnis nach Spiritualität wurde dazumal als frühkindliche Sehnsucht nach einer heilen Welt pathologisiert und als eine Indikation für eine psychotherapeutische Behandlung gewertet. Der aufgeklärte, seiner selbst bewusste Mensch sollte autonom und unabhängig sein von etwas Größerem.
Diese Einschätzung spiritueller Praxis wurde vor allem durch Sigmund Freuds (vgl. 1993) Werk „Die Zukunft einer Illusion“ aus dem Jahre 1927 grundgelegt. Darin beschrieb er illusionäres Wunschdenken und kindliches Anlehnungsbedürfnis als die wesentlichen Motive religiöser Sehnsüchte.
Es kann natürlich nicht geleugnet werden, dass gerade eine dogmatische und zu Gehorsam verpflichtende Religiosität unverarbeiteten infantilen Schemata entgegenkommt. Ganz zu schweigen von den gerade in den letzten Jahren aufgedeckten Missbrauchsfällen im Umfeld kirchlicher Institutionen.
Insbesondere Leuten aus heilenden Berufen ist es zu verdanken, dass diese Form von Gewalterfahrungen in einer breiten Öffentlichkeit detailliert diskutiert wurde. Aber nicht nur sexuelle Übergriffe, sondern auch der unreflektierte Umgang mit Sünde und Sühne hinterlassen gravierende Spuren in der Seele. In psychotherapeutischen Sitzungen geht es vielfach darum, sich davon zu lösen, das schlechte Gewissen abzulegen und einen selbstbestimmten Weg zu folgen.
Was allerdings in dieser so wichtigen Auseinandersetzung auffiel, ist die häufig identische Verwendung der Begriffe von Spiritualität und Religion. Auch wenn es zwangsläufig durch die Verwandtschaft dieser Begriffe zu partiellen Überschneidungen kommt, erscheint es für ein übergreifendes Verständnis dieser Untersuchung sinnvoll, spirituelle Praxis und institutionalisierte Religionsausübung zu differenzieren.
Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die häufig schon mit der Geburt einsetzt, ist prinzipiell mit der expliziten Anerkennung eines Schöpfungsmythos und eines daraus entwickelten Sets von Regeln, Geboten und Verboten verbunden. Je mehr daraus fanatisiertes Sektierertum erwächst, desto stärker werden dysfunktionale und menschenverachtende Ideologien sichtbar, deren Anhänger zu autoritären, moralisierenden, terrorisierenden und tabuisierenden Verhaltensweisen neigen.
Spiritualität, so wie sie hier vertreten wird, steht mit den Menschenrechten und humanistischen Grundwerten im Einklang.
Das Bedürfnis nach Spiritualität, das zumeist im Erwachsenenalter wach wird, geht mit der Suche nach einem tieferen Sinn des Lebens einher. Auf einen Nenner gebracht, geht es dabei um Selbsterkenntnis im Sinne der Frage „Wer bin ich wirklich?“ Um darauf Antworten zu finden, ermutigen spirituelle Lehrer, den Geist zu beruhigen, strikt den Blick nach innen zu wenden und ganz der eigenen Erfahrung zu vertrauen.
Im Unterschied zu einem exoterischen Religionsverständnis sieht also der spirituelle Weg in der persönlichen Erfahrung die höchste Autorität.
Natürlich haben auch spirituelle Richtungen ihre Erfahrungen in übergeordneten Denkfiguren kommuniziert. Diese sind aber so flexibel und offen gefasst, dass sich der Adept darin frei bewegen kann. Zusammengefasst gehen spirituelle Richtungen in der Regel von folgenden Anschauen aus: Es gibt eine über die Person hinausgehende Wirklichkeit, die wir persönlich erfahren können.
Wenn wir uns in dieses größere Ganze vertiefen, erleben wir das Sein als unendlich weit und tief. Wir können es wohl gewahren, aber nicht gänzlich kognitiv erfassen. Da unser Bewusstsein einerseits vom Seienden durchdrungen ist und sich andererseits reflektierend darauf beziehen kann, können sich implizite Strukturen des Seinsganzen in repräsentierenden Bewusstseinsprozessen spiegeln.
Die sich in uns zeigenden Inhalte erfahren wir als übergeordnete Sinngestalten einer höheren Wirklichkeit. Diese Dimension des Seins, für die es mehrere Namen gibt, wird durch die jeweiligen kulturellen Chiffren, persönlichen Fühl - Denkschemata (vgl. Ciompi, 1999) und sprachlichen Codes subjektiviert.
Wer Einsichten in diesen Bereich erlangt, wird gelassener, freudvoller und zufriedener. Um dafür durchlässiger zu werden, lohnt es sich, zu meditieren. Durch die Beruhigung der Innenwelt kann sich das Bewusstsein weiter ausdehnen, sich selbst transzendieren und sich zunehmend mit dem größeren Ganzen verbinden.
In diesem Kontext ist noch zu erwähnen, dass die spirituelle Praxis nicht im Elfenbeinturm abläuft, sondern sich tief in der Lebenswirklichkeit verankern will.
Nur wer Spiritualität im Menschlichen selbst und zur Welt gehörig empfindet, unterliegt nicht der Gefahr der Erhöhung und Idealisierung.
Das gilt natürlich auch für die Psychotherapie. Darüber hinaus ist für sie, ähnlich dem hier dargelegten Verständnis von Spiritualität, auch ausschlaggebend, was der Klient in seinem Inneren erlebt. Erst die Verfeinerung des Spürbewusstseins und das ausdauernde in sich Hineinhören, ermöglichen uns, die Ursachen hinter den Ursachen zu finden.
Das gilt gleichermaßen für Einsichten in die Leiddynamik, die Entfaltung von Potenzialen und die Erkundung von Sinnhorizonten. Diese drei voneinander abhängigen und sich ergänzenden Dimensionen der Bewusstheit fördern seelische und geistige Entwicklungsprozesse.
So war es nicht verwunderlich, dass es auch zu früheren Zeiten immer schon Ansätze gab, die auf die hohe Bedeutung von Sinn, Sinnfindung und Spiritualität für eine erfolgreiche Psychotherapie hinwiesen. Beispielhaft sind in diesem Zusammenhang vor allem Daseinsanalyse (vgl. Medard Boss, 1975 u. 1982), Existenz- und Logotherapie (vgl. Frankl, 1977 u.2007) Psychosynthese (vgl. Assagioli, 1986) oder Initiatische Therapie (vgl. Karlfried Dürckheim, 1989 u. 1992) zu erwähnen.
Ganz besonders war es in der Tiefenpsychologie aber auch C.G. Jung (1972, S.465), der die heilende Kraft spiritueller Erfahrungen wie folgt charakterisierte:
„Es ist so, dass der Zugang zum Numinosen die eigentliche Therapie ist, und insoweit man zu den numinosen Erfahrungen gelangt, wird man vom Fluch der Krankheit erlöst.“
Betrachtet man, im Gegensatz zu der früher skeptischen Haltung, die heutige spirituelle Psychoszene, so haben wir es mit einem regelrechten Boom zu tun, der natürlich wieder Gefahren, auf die noch hinzuweisen sind, in sich birgt.
Das Buch „The Secret“ von Rhonda Byrne (vgl. 2006) stand monatelang auf Nummer 1 in den USA. Die zentrale Botschaft des Buches lautet: „Wenn Du etwas wirklich willst, bekommst Du es auch, wenn Du das Universum darum inständig bittest.“ Inzwischen ist daraus ein ganzer Industriezweig entstanden.
Ein Psychotherapeut, der die geistig-existenzielle Dimension des Menschen nicht mit einbezieht, gilt als kurzsichtig und antiquiert.
Achtsamkeit, Mitgefühl, Akzeptanz und Weisheit werden mittlerweile in vielen psychotherapeutischen Richtungen als positive Therapeutenvariablen eingesetzt. Sogar die Verhaltenstherapie hat in diesem Zusammenhang ihre empiristische Einseitigkeit überwunden.
Zum Beispiel wird derzeit im Bereich der Anpassungsstörungen als neue Subkategorie im ICD die „Verbitterungsstörung“, diskutiert. Im Unterschied zur PTSD ist der Leitaffekt jedoch nicht Angst, sondern Verbitterung und Aggression gegen sich selbst und die Umwelt. Michael von Linden (vgl. 2008), ein führender Vertreter der kognitiven Verhaltenstherapie, der das Standardwerk „Verhaltenstherapiemanual“ herausgegeben hat, sieht in der „Weisheitstherapie“ einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Psychotherapie. Für die Behandlung der existentiellen Verbitterung sei sie wegweisend. Ohne diese breitere Perspektive könne man nicht heilen.
Auch Psychoanalytiker haben sich auf einer Jahrestagung mit dem Thema „Psychoanalyse des Glaubens“ auseinandergesetzt in Erinnerung an die lange vergessene Feststellung Freuds (1975, S. 318f), „… dass der normale Mensch nicht nur viel unmoralischer ist, als er glaubt, sondern auch viel moralischer, als er weiß …“
Psychosomatische Kliniken, Kuranstalten und Wellnesshotels können heutzutage nur dann im Wettbewerb bestehen, wenn sie ebenso Yoga und Meditation im Angebot haben.
In der Wirtschaft beginnen Führungskräfte, sich zunehmend mit spirituellen Themen zu befassen. Vorreiter dieser Bewegung ist Otto Scharmer (vgl. 2008), der in seiner Theory U betont, dass wir eine ökonomische Balance in der globalisierten Welt nur dann erreichen können, wenn wir innehalten, vergangenheitsorientierte Denkweisen loslassen und uns dem größeren Ganzen anvertrauen.
Wer beginnt, mit allen Sinnen wahrzunehmen sowie den Geist und das Herz zu öffnen, findet Zugang zu einem tieferen Wissen, das nicht mehr an persönliche Begrenzungen gebunden ist. Seine Schlagwörter dafür sind: „Open mind, open heart and open will“.
Wie wir wissen, weisen Modeströmungen einerseits auf bisher vernachlässigte Aspekte hin, andererseits laufen sie auch Gefahr, sich kritiklos zu neuen Ideologien zu verfestigen.
Demgegenüber wird jeglicher rückwärtsgewandten Religiosität von Vertretern eines „neuen Atheismus“ der Kampf angesagt; so Richard Dawkins (vgl. 2007) in seinem Buch „Gotteswahn“.
Es ist also nicht leicht, auf diese polarisierende Diskussion differenzierend einzugehen und gleichzeitig der Versuchung zu widerstehen, sich mit einem ganzheitlichen Ansatz in eine überlegene Position bringen zu wollen. Dies wäre in Ansehung unseres lückenhaften Wissensstandes gefährlich.
Das Thema des kommenden Artikels heißt "Gefahren ganzheitlicher Ansätze".
Herzlichst
Sylvester Walch
Legende:
Sylvester Walch, Dr. phil., geb. 1950. Studium der Psychologie, Psychiatrie und Philosophie. Ausbilder für Psychotherapie und Lehrsupervisor für Integrative Therapie, Integrative Gestalttherapie, Transpersonale Psychotherapie und Holotropes Atmen. Lehraufträge an verschiedenen Universitäten im deutschsprachigen Raum.
Er leitete über viele Jahre eine stationäre psychotherapeutische Einrichtung und verfasste zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Bücher: u.a. „Dimensionen der menschlichen Seele“, „Vom Ego zum Selbst„ und „Subjekt und Realität“.
Sylvester Walch verfügt über eine langjährige Meditationspraxis und entwickelte einen kulturübergreifenden spirituellen Weg, in dem seelische Heilung und geistige Praxis verbunden werden. Er ist Gesamtleiter des Weiterbildungscurriculums „Transpersonale Psychotherapie und Holotropes Atmen“