Spiritualität verstehen - Spiritualität leben
Laut Duden ist Spiritualität die Geistigkeit; das innere Leben, das geistige Wesen. Bemerkenswert hierbei, dass die Spiritualität über keinen Plural verfügt. Google liefert ca. 9 Millionen Treffer für das Stichwort Spiritualität, und auch wenn dies nicht ebenso viele unterschiedliche Bedeutungen von Spiritualität bedeutet, so können wir sicher sein, dass Spiritualität doch sehr viele Bedeutungen haben wird.
Das Wort selbst stammt vom lateinischen „spiritus“ also Geist. Eigentlich bedeutet es bewegte Luft, Wind, Hauch, Lebenshauch, Atem. Um Spiritualität im Alltag zu verstehen, reicht dies natürlich nicht aus. Wir müssen uns daher trotz der vielen individuellen Bedeutungen von Spiritualität grundsätzlich darauf einigen, was wir unter Spiritualität verstehen. Ein gewagtes Unternehmen vielleicht, daher beginnen wir mit einigen Definitionen der Spiritualität aus der Welt der Wörterbücher und Lexika.
Spiritualität: Philosophie – Religion – Psychologie
In einem philosophischen Wörterbuch wird Spiritualität mit dem Synonym Geistigkeit erklärt und als Gegensätze zur Spiritualität werden Materialität und Körperlichkeit postuliert.
Hier könnten wir fragen, warum denn Spiritualität und Körperlichkeit Gegensätze sein müssen; zumindest ob sie es so radikal sein müssen. Dies würde nämlich die Spiritualität in eine unerreichbare Ferne für all die von uns rücken, die für das tägliche Leben sorgen müssen. Zum Leben gehören nun mal auch der Körper, die Körperlichkeit, der Alltag.
Wenn wir jedoch in diesem philosophischen Wörterbuch weiterblättern, erhalten wir einen beruhigenden Hinweis. Denn das Körperliche wird hier als ein Produkt beziehungsweise eine Erscheinungsweise des Spirituellen erklärt. Somit wird der Gegensatz Spiritualität versus Körperlichkeit relativiert.
Aber konzentrieren wir uns darauf, dass die Spiritualität am Anfang der Körperlichkeit steht. Das Element des Anfangs in Verbindung mit der Spiritualität finden wir ebenfalls in einem psychologischen Wörterbuch. Hier ist in diesem Kontext von einer metaphysischen Doktrin die Rede, der zufolge die Grundlage der Wirklichkeit von immaterieller, geistiger, ergo spiritueller Beschaffenheit sei. Spiritualität wieder mal am Anfang!
Spiritualität – Anfang – Seele
Dieser Anfang bringt uns einen nächsten Schritt weiter. Denn wenn wir nur einen kleinen (für manche vielleicht gar keinen) Sprung von der Philosophie in die Religion wagen, und die Spiritualität mit dem Anfang sowie dem eingangs erwähnten Lebenshauch verknüpfen, so finden wir uns in der Bibel wieder.
Dort heißt es in der Genesis, Gott „… machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.“ Die Spiritualität steht somit am Anfang allen menschlichen Daseins, wir Menschen sind von Beginn an beseelte, spirituelle Wesen.
Daraus ergeben sich einige interessante Schlussfolgerungen, die gewiss ihre Gültigkeit nicht nur für Menschen einer bestimmten Religionszugehörigkeit haben. Eine der Schlussfolgerungen verbietet uns, einem Menschen die Spiritualität abzusprechen, nur weil er vielleicht unseren diesbezüglichen Maßstäben nicht entspricht. Die Spiritualität wohnt per se ausnahmslos jedem Menschen inne.
Weiterhin erfahren wir hier, dass die Spiritualität der Seele gleichgesetzt werden kann. Das dürfte allerdings kaum etwas Neues sein, denn diese Qualität sprechen wohl wir alle unserer Seele zu bzw. betrachten die Seele als den Sitz der Spiritualität.
Spiritualität – Körper – Leben
Eine weitere Schlussfolgerung erinnert uns wunderbar daran, dass der Körper, wenn er auch aus dem Erdenkloß erschaffen sein mag, die materielle Voraussetzung für unsere gelebte Spiritualität im Alltag darstellt. Wir können den Körper als ein Schiff betrachten, mit dem wir uns mitsamt unserer Seele auf die Lebensfahrt durch dieses Leben begeben haben.
Wir können sicher davon ausgehen, dass unsere Seele sich gerade dieses Schiff ausgesucht hat. Wir dürfen daher nicht den Körper als etwas Minderwertigeres, als Schlechtes oder als etwas betrachten, was uns von der Spiritualität abhält. Wenn wir uns ausschließlich auf das Körperliche beschränken, nur das Greifbare anerkennen und das Immaterielle verleugnen würden, dann könnte uns ein solcher Lebensentwurf von dem Leben unserer Spiritualität abhalten. Vorhanden wäre die Spiritualität jedoch auch in diesem Fall; sie wäre lediglich nicht bewusst gelebt. Aber gehören nicht solche Lebensabschnitte mit der Verleugnung der Spiritualität zum Lernen im Leben? Sind wir nicht selbst solche Umwege zur Spiritualität gegangen? Wenn nicht in diesem, so in den früheren Leben?
Halten wir also fest: Spiritualität ist kein Widerspruch zur Körperlichkeit. Sie ist in unserem menschlichen Dasein mit dem Körper als ihr irdischer Träger untrennbar verbunden und wir können die Seele als die Spiritualität oder zumindest als ihren Träger betrachten.
Gelebte Spiritualität heute
Die enge Verbindung der Spiritualität mit dem Körper als das irdische Schiff für die Lebensfahrt führt uns zu weiteren Schlussfolgerungen. Denn wenn wir unseren Körper in dieser Konstellation betrachten können, so gehört es zur gelebten und praktizierten Spiritualität, dass wir für dieses Schiff sorgen, oder etwas salopper ausgedrückt, dass wir es im Schuss halten.
Wir Menschen erhalten immer häufiger einen bewussten Zugang zu unserer Spiritualität und immer häufiger machen wir die Spiritualität zu einem der wichtigsten Lebensinhalte. Dafür kann es mehrere Gründe geben. Ein recht nüchterner Grund ist unsere erhöhte Lebenserwartung. Vor Jahrhunderten und gewiss vor Jahrtausenden hatten wir schlicht keine Lebenszeit dafür, nach dem Sinn des Lebens und nach der Spiritualität zu trachten. Der Sinn des Lebens war ein sehr existenzieller, denn es war das Überleben selbst. Zumindest solange, bis wir das Leben auf unsere Nachkommen haben weitergeben können. Haben wir dafür gesorgt, war auch nicht selten unsere Lebenserwartung erreicht.
Heute hingegen haben wir eine Lebenserwartung, die uns eine intensivere Suche nach dem Sinn des Lebens ermöglicht, zu der zweifelsohne auch die Spiritualität gehört. Immer seltener müssen wir Menschen um die nackte Existenz kämpfen. Wir leben länger, wir verfügen über mehrere Jahre und Jahrzehnte, in denen wir uns immer intensiver der Sinnsuche, somit auch dem Leben der Spiritualität widmen können. So bleibt die Spiritualität nicht nur den Heiligen, Asketen, Gurus und Entsagenden vorbehalten. Spiritualität ist auch im Alltag möglich, für Menschen wir du und ich.
Vor diesem Hintergrund erscheint jedoch die Sorge für den Körper als das Seelenschiff umso wichtiger. Die Sorge für den Körper wird zu einem entscheidenden Aspekt der gelebten Spiritualität. Denn je besser wir unser Seelenschiff in Ordnung und auf Kurs halten, umso länger, intensiver, tiefer können wir den Lebensozean bereisen. Umso weiter können wir in einem einzigen Leben gelangen, umso mehr entdecken, umso mehr Erfahrungen sammeln.
So können wir vermutlich auch mehr davon in unserem eigenem Seelengedächtnis mit ins nächste Leben, auf die nächste Seelenschifffahrt mitnehmen.
Kehren wir aber nochmals zu der Verbindung zwischen der Spiritualität, der Seele und dem Körper zurück. Wenn sich unsere Seele gerade diesen einen Körper für ihre Schifffahrt ausgesucht hat, so hat sie ihre Gründe dafür. Hadern wir daher nicht mit unserem Körper, betrachten wir ihn nicht als ein Hindernis auf dem Weg zur Spiritualität.
Ein Körper, der nicht auf den ersten Blick engelsgleich erscheint, der nicht für Schönheitswettbewerbe oder für Olympiaden gebaut ist, kann so in einem ganz anderen Licht betrachtet werden. Muss ein solcher Körper nur ein Hindernis sein, ein Fluch, eine Bürde, eine Last? Können wir wirklich mit letzter Sicherheit behaupten, dass nur ein schöner (und wer beurteilt das?) Körper ein guter, richtiger oder sonst wie positiv bewerteter Körper ist?
Wenn wir obendrein die Idee mehrerer Leben mitsamt der unsterblichen Seele und der damit verknüpften Spiritualität zulassen, so berauben wir uns regelrecht einer solchen Bewertung des Körpers. Dann laden wir die Pflicht auf uns auf, für unseren Körper als das Lebensschiff zu sorgen. Wir sollten dann Vorsicht walten lassen, wenn wir unseren oder andere Körper, Lebensentwürfe und Lebensweisen bewerten. Wir wissen nicht immer, wir wissen nicht sofort um die Lebensaufgaben, die sich eine Seele für dieses Leben ausgesucht hat, was also die Ziele der Seele in einem Leben sind.
Ziele, die sich die Seele setzt, sind unsere zutiefst spirituelle Lebensaufgaben. Gelebte Spiritualität bedeutet daher nicht notwendigerweise ein asketisches, rein meditativ ausgerichtetes oder anderes entsagendes Leben. Solche Wege sind sicher möglich. Sind sie aber immer erforderlich? Für jeden von uns? Auf jeder Lebensschifffahrt?
Wenn ich ein guter Kapitän meines Schiffes bin, so tadele ich weder mein Schiff noch das Wasser noch das Wetter, in das ich geraten bin. Ich trachte dann vielmehr danach, bestmöglich für mein Schiff zu sorgen, das schlechte Wetter und die schlechten Wasser zu umschiffen oder in ihnen zu bestehen. Dadurch sammle ich Erfahrungen und werde meine Lebensreise auch in unbekannten Gewässern sowie bei schlechtem Wetter immer sicherer fortsetzen können.
Solch verstandene Sorge für das Lebensschiff der Seele ist gelebte Spiritualität und eine Voraussetzung für einen immer intensiveren Zugang zur Spiritualität.
von Jan Schneider