Können wir dem Leben vertrauen? - Leiden und Helfen.
von Dr. Sylvester Walch -
Dem Leben vertrauen und Dynamik des Leidens und Helfens.
Letztens haben wir herausgefunden, dass Mitgefühl für die Bewältigung seelischer Probleme und existenzieller Nöte außerordentlich wichtig ist. Mitfühlend zu sein, anderen und sich selbst gegenüber, bedeutet zunächst, die Schwierigkeiten anzunehmen und tiefer zu verstehen. Erst durch diese achtsame Annäherung kann es uns gelingen, etwas weicher zu werden, sich zu öffnen und anzuvertrauen.
In diesem positiven Milieu fällt es grundsätzlich leichter, neue Lösungen zu finden und sie auch umzusetzen. Wenn ich nun mein eigenes Leben vor dem geistigen Auge betrachte und daneben an die vielen Menschen denke, die ich begleitet habe, sind es immer wieder ähnliche Themen, wodurch Menschen am Leben leiden.
Es sind vor allem Minderwertigkeitskomplexe, Depressionen, Ängste, Beziehungskonflikte oder ausweglose Lebensengpässe, wie etwa Einsamkeit, Schwierigkeiten mit den eigenen Kindern, finanzielle Probleme und langandauernde Unzufriedenheit mit dem Beruf.
Diesen sichtbaren Symptomen liegen häufig tiefere Ursachen zugrunde.
Wenn man nun diese Menschen anregt, von ihrem Leben zu erzählen, so sprechen sie in der Regel von mangelnder Liebe, Sicherheit oder Unterstützung sowie von Gewalterfahrungen, chronischen Konflikten oder langandauerndem Stress. Einerseits also ein Zuwenig und andererseits ein Zuviel.
Wenn nun Menschen über längere Zeit diesen Zuständen ausgesetzt sind, werden sie hart sich selber und anderen gegenüber. Sie bauen eine Mauer auf, einen seelischen Panzer, um sich zu schützen.
Deswegen wirken sie nach außen oft unecht und manchmal fassadenhaft. Sie trauen sich nicht mehr, ihren eigenen Weg zu gehen und erleben sich nicht als Person, die Achtung und Wertschätzung verdient hat.
Dabei muss man verstehen, dass dies ein Schutzmechanismus ist, um nicht mehr der Gefahr von früher ausgesetzt zu sein. Sogar wenn sie dann nicht mehr unter diesen negativen Umständen leiden, können sie trotzdem noch nicht glauben, dass der Schrecken von früher vorüber ist.
So erleben wir sie missmutig, ängstlich oder unzufrieden, obwohl ihr Leben, von außen betrachtet, in Ordnung scheint. Dabei reagieren sie auf Situationen und Personen der Gegenwart häufig so, als würden sie ihnen nach wie vor Schaden zufügen wollen. Es ist wie ein Irrtum in der Zeit, dem wir immer wieder erliegen.
Demgegenüber nützt es wenig, durch Überredungskunst jemanden davon überzeugen zu wollen, dass sein Leben doch wirklich o. k. ist. Er wird uns immer wieder Gegenbeispiele vor Augen führen. Man muss sich das so vorstellen, als wenn jemand mit einer dunklen Brille durch die Welt geht und wir ihn davon überzeugen wollen, dass die Sonne scheint.
Mitfühlend zu sein, heißt, sich in den Zustand des anderen zu versetzen und ihn von innen her zu spüren. Dadurch gelingt es uns leichter, nachzuempfinden, wie und wodurch das innere Wesen dieses Menschen bedrückt ist.
Wenn wir nun liebevoll mitteilen, was wir „mit-„ ihm „fühlen“, kann, manchmal sogar in aussichtslosen Momenten, sich sein Befinden plötzlich für eine neue Dimension öffnen, denn: Dieses unmittelbare Erleben von Liebe und Wertschätzung kann sogar spontane Transformationen auslösen.
Das, was sich vorher zusammengezogen hat, dehnt sich ein klein wenig aus. Die Seele beginnt, wieder weiter, offener und empfindsamer zu werden. Wenn sich nun auch noch Gefühle intensiver zeigen, ist das ein gutes Zeichen, denn es es heißt nichts anderes, als dass der Betroffene wieder in den Fluss des Lebens zurückkehrt und sich nicht mehr davon abgeschnitten fühlt.
Nun möchte ich aber bei dieser Gelegenheit noch auf ein häufiges Missverständnis hinweisen. Mitfühlend zu sein, heißt aber nicht, dass wir glauben, dem anderen sein Schicksal abnehmen und alle Hindernisse aus dem Wege räumen zu müssen.
Das wäre falsch verstandenes Mitleid, das niemanden hilft. Im Gegenteil, denn dann kann es sogar passieren, dass wir das Leid vermehren.
Denken wir an einen Alkoholkranken. Natürlich wird er uns anflehen, dass wir ihm etwas zu trinken geben. Hier ist es wichtig, standhaft und ehrlich zu sein, auch wenn dadurch Konflikte verursacht werden.
Wenn uns das nicht gelingt und wir dem anderen dadurch helfen wollen, dass wir ihm die Schwierigkeiten abnehmen, gelangen wir in einen Teufelskreis. Je mehr wir für ihn tun, desto weniger bemüht sich der Hilfesuchende. Dadurch verstärken wir oftmals die Probleme und tragen wenig zur Lösung bei.
In Fachkreisen nennt man das Co-Abhängigkeit. Diese kann zwar vorübergehend Beruhigung verschaffen, verstärkt aber letztendlich leider die Abhängigkeit und Unsicherheit. Wer mitfühlend ist, agiert am besten nach dem Motto: Hilfe zur Selbsthilfe. So können dann wahrhaftige Äußerungen wie „es ist wichtig, dass Du Dir das genauer anschaust“ oder „ich mache da nicht mit“ oder ich kenne einen kompetenten Fachmann, der Dir bestimmt weiterhelfen kann“ den Stein ins Rollen bringen, auch wenn sie vielleicht zu vorübergehenden Unstimmigkeiten führen.
Wer mitfühlend ist, ist somit einfühlsam und ehrlich, unterstützt jemanden auf seinem Genesungsweg, nimmt aber dem Betroffenen nicht die Verantwortung aus der Hand.
Wenn wir von der Dynamik des Leidens und Helfens sprechen, müssen wir berücksichtigen, dass die Auflösung einengender Lebensmuster nur dann gelingt, wenn wir ausdauernd sind und uns kleine Ziele stecken. Gurumayi, eine spirituelle Lehrerin unserer Tage, sagt: „Viele Leute möchten in ihrer Entwicklung immer große Sprünge machen. Das ist schon recht, doch bedenke, dass du dabei die Schönheit jedes einzelnen Schrittes übersiehst.
Jeder kleine Schritt hat seinen eigenen inneren Plan. Möchtest du ihn nicht kennenlernen? Wenn du achtsam Schritt für Schritt in deiner inneren Entwicklung weitergehst, machst du die Erfahrung, dass du innerlich stärker wirst und dir wird auch bewusst, was du für das große Ziel getan hast.“
Das ist doch ein wunderbares Zitat, das uns dabei helfen kann, geduldig mit uns selbst zu sein und Rückschläge in Kauf zu nehmen.
Dem Leben vertrauen
herzlichst
Dr. Sylvester Walch
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