Was hat Schreiben mit Spiritualität zu tun?
- Teil 3 -
von Ulrike Dietmann -
DIE VERBINDUNG: Von der Muse geküsst werden.
Ich hatte also ein junges Pferd zu bändigen und einen Roman zu schreiben. Ich erkannte, dass Präsenz, das „in der Gegenwart sein“, bei beidem ausgesprochen hilfreich war. Einem Tier kann ich nur in der Gegenwart begegnen, auf alles andere reagiert es mit Irritation oder Desinteresse. Der Leser verhält sich diesbezüglich nicht viel anders als ein Tier. Ein Text, der mit großer Präsenz geschrieben wurde, wird den Leser ebenfalls in ein starkes Gegenwartserleben bringen – das Elixier aller erfolgreichen Texte.
Ich erkannte auch, dass ein Pferd sich immer im Raum der reinen Erfahrung, in einem steten Prozess befindet, im Austausch mit allem, was um es herum ist. Wenn ich mich selbst der reinen Erfahrung aussetzte und meine Blockaden hinter mir lassen konnte, fand ich das Pferd. Und das Pferd fand mich. Es folgte mir so wie ich ihm folgte. Es entstand eine Verbindung. Genauso erging es mir mit meinem Text: Ich suchte den Text, der Text suchte mich und wenn wir zusammenkamen entstand etwas Zauberhaftes. Die Verbindung ist ein weiteres großes Thema der Spiritualität. Verbindung zu Gott, zum Göttlichen, zu „allem, was ist“ oder bei den Schamanen Verbindung zu Krafttieren und Spirit Guides. In der Autorenwelt nennen wir sie Musen.
Unser prominentestes „Krafttier“ ist Pegasus, das geflügelte Pferd. Es verkörpert Gegenwartsbewusstsein, das Bewusstsein der reinen Erfahrung und eine enge Verbindung zu allem, was ist. Als Herdentier befindet es sich in ständiger Verbindung mit seinen Herdenmitgliedern und allen anderen Lebewesen, von denen es umgeben ist.
Das Pferd verliert sich dabei nicht in der Beziehung, sondern behält immer ein klar abgegrenztes Bewusstsein seiner selbst und seines Selbstschutzes. Fähigkeiten, die auch wir als Autoren brauchen können. Zum Beispiel in unserer Beziehung zu unseren Figuren. Nur durch unsere authentische Beziehungsfähigkeit gewinnen unsere Figuren echtes Leben und werden zu guten Freunden des Lesers wie Winnetou, Miss Marple oder der Terminator.
Und wie steht es mit unserer Beziehung zu unseren Lesern? Klar, sie sind weit weg und wir kriegen wenig mit von ihnen, aber wenn wir schreiben, tun wir es nicht für sie? Und was wollen wir für sie tun? Wollen wir sie unterhalten, erleuchten, berühren, zum Lachen, zum Gruseln oder zum Rätseln bringen?
Autoren sind Meister in einer sehr spezifischen, abstrakten Beziehungskunst zwischen einem, der ganz allein am Schreibtisch sitzt und schreibt und einem der ganz allein auf dem Sofa sitzt und liest. Beziehungskunst, ähnlich nicht-materiell und unsichtbar wie die Beziehung zum Göttlichen oder zum reinen Bewusstsein, das in den spirituellen Schulen, Tempeln und Klöstern dieser Welt geübt wird.
Und wie steht es mit unserer Beziehung zu unserer Muse? Haben wir eine und pflegen wir sie? Wenn du schon mal verliebt warst, weißt du wie die Worte von allein sprudeln, inspiriert von der Muse in Gestalt deines /deiner Angebeteten. Unzählige Werke der Kunst wurden für einen Geliebten oder eine Geliebte geschaffen. Eine Muse ist ein Wesen, in das wir verliebt sind. Hier dürfen wir unsere Fantasie weit schweifen lassen: Sind wir verliebt in unser Motorrad, in die Pizza Margherita von nebenan oder in ein Pferd namens „Daily News“?
Die Liebe zu Musen ist längst nicht so schreckensbehaftet wie es die Liebe unter Menschen sein kann. Musen verlangen nichts von uns außer Aufmerksamkeit. Wir müssen ihnen nicht treu sein, sie lassen sich von uns nicht aus der Fassung bringen, unsere ausweglosen Grübeleien sind ihnen ebenso willkommen wie unser versponnener Überschwang.
Für ein wenig Aufmerksamkeit schenken sie uns lang andauernde Inspiration und unbezahlbare Eingebungen, Worte, die wir ohne sie nie gefunden hätten und die uns zu Tränen rühren. Musen lehren uns, dass Beziehung Aufmerksamkeit ist und Aufmerksamkeit Beziehung, nicht mehr und nicht weniger. Eine direkte Folge von Präsenz (Gegenwartsbewusstsein) und Erfahrung (Prozessbewusstsein).
Eine kleine Übung:
Richte deine Aufmerksamkeit auf ein Wesen, das dir Freude bereitet, was für ein Wesen es auch immer sein mag. Als Autoren verstehen wir es selbstverständlich auch eine Pizza Margherita als selbstständiges seelenvolles Wesen zu erkennen wie Stephen Hillenburg, der mit einem Putzschwamm namens „Sponge Bob“ Millionen Menschen auf aller Welt unterhält. Wenn du deine Muse des Augenblicks gefunden hast, nutze die Verliebtheit und Begeisterung, die sie auslöst (hmmm, lecker, die Pizza, wow, toll gelöchert der Sponge Bob) und schreibe aus diesem Gefühl heraus.
Beim Schreiben wirst du bemerken, wie die Verbindung stärker wird, wie du in Kontakt kommst mit etwas Zauberhaftem, wie du anfängst tiefer und leidenschaftlicher zu lieben.
Alles, was aus Liebe geschaffen wird, strahlt Schönheit aus und berührt andere. Liebe ist viel wirksamer als eine perfekte Sprache oder perfekt geplottete Geschichte. „Der Anfang aller Kunst ist die Liebe“, schreibt Hermann Hesse.
Der spirituelle Weg und der Weg des Autors ist wie der Weg des Pferdemenschen und der Weg des friedvollen Kriegers ein Weg der Liebe. Der Liebe zwischen zwei Wesen, der Liebe zum Göttlichen oder wie auch immer dein Weg der Liebe aussehen mag. Jedes Wesen liebt anders und liebt andere und niemand kann die Liebe zwingen oder willentlich hervorbringen. Die Liebe wird uns geschenkt. Berührende, bewegende Texte, spannende Figuren und Geschichten werden uns geschenkt.
Alles, was wir tun können, ist offen dafür zu sein. Deshalb konzentrieren sich spirituelle Schulen darauf, das sogenannte Ego aus dem Weg zu räumen. Weil es uns im Weg steht, wenn wir uns in Hingabe und Empfänglichkeit üben.
Die Überwindung des Egos kennen wir Autoren ebenfalls gut. Das Schreiben fordert, dass unsere Persönlichkeit in der Geschichte verschwindet, dass der Leser sich nicht für uns, sondern für unsere Figuren begeistert. Die Mini-Honorare, die wir für unsere geistig anspruchsvollen Leistungen erhalten sorgen ebenfalls dafür, dass selbstbespiegelnder Größenwahn unter Autoren nur schwer aufkommen kann. Als Autoren üben wir uns gewollt oder ungewollt in Selbstlosigkeit.
Wir lernen die Welt als einen Ort kennen, der viele Perspektiven bereithält, viele Wirklichkeiten. Wir lernen, uns in die Haut der verschiedensten Figuren zu begeben, eine große Bandbreite an Gefühlen zu erleben, auch solche, die unser Alltag nicht bietet. Unser Bewusstsein weitet sich mit jedem neuen Text, den wir schreiben, mit jedem neuen literarischen Abenteuer. Und auf dem Weg finden wir wie die spirituellen Sucher Einfachheit, Kraft, Mut und Essenz.
Herzlichst
Ulrike Dietmann