Spiritualität im Alltag.
von Oliver Unger -
Wie kann das gehen? Indem wir bei uns selbst anfangen.
Freundlich bin ich begrüßt worden. Natürlich hat man mich direkt geduzt - so wie es in spirituellen Kreisen üblich ist. „Lieber Oliver, hier sind die Teilnahmebedingungen und Verpflichtungserklärungen. Lies sie dir genau durch. Es geht im Wesentlichen um...“ sagte die nette Dame am Empfang und reichte mir eine Kopie auf hauchzartem, uringelbem 80-Gramm-Papier. Ein ellenlanger Text in Schriftgröße 6. Eine Katastrophe für meine Augen!
Ich unterschrieb, ohne gelesen zu haben, ob ich vielleicht doch einen Staubsauger statt einer Selbsterfahrungsgruppe gekauft hatte. Dann reichte ich den Zettel zurück und die nette junge Dame wies mich ein. Sie zeigte mir, wo die Getränke standen, wo die Toiletten waren, wo ich mich umkleiden konnte und deutete schließlich auf die Tür zum Gruppenraum. „Ja... ja... okay... danke“, nickte ich brav.
Punkt zehn Uhr standen die Teilnehmer gesammelt vor der verschlossenen Tür. Es waren hauptsächlich Frauen anwesend. Alle redeten. Die Atmosphäre glich eher einem Hühnerstall und hatte im Moment nur eins mit meditativer Selbsterfahrung zu tun: Wenn du es schaffst, in diesem hysterischen Gezeter bei dir selbst zu bleiben, bist du schon nah an der Erleuchtung.
Innen drin hörte ich währenddessen noch Schritte und Rascheln. Ich war aufgeregt wie ein Schneekönig. Schließlich hatte ich Ewigkeiten keine Selbsterfahrung mehr gemacht. Beim letzten Mal befand ich mich in der Ausbildung zum Psychologischen Berater, als ich auf einem so genannten „heißen Stuhl“ gesessen hatte. Diesen Platz nennt man so, weil einem da schon mal ganz schön heiß werden kann. Und heute, fast zehn Jahre später, hatte ich nach langem Hin und Her, vielen Zweifeln und Bedenken mal wieder beschlossen, mich selbst vom Therapeutenstuhl weg in die Rolle eines Klienten zu begeben.
Plötzlich öffnete sich die Tür zum Gruppenraum. Der Duft von ätherischem Öl kroch in meine Nase. Es war vermutlich Raumspray zur Klärung schwerer Energien, dachte ich noch. Sind schwere Energien eigentlich schwerer zu ertragen als schwere Düfte? Dreißig Teilnehmer, die sich natürlich größtenteils untereinander bereits kannten, betraten den Raum. Ich kannte keinen. Das machte mich etwas unsicher.
Das Seminar war spannend für mich. Es gab Familienaufstellungen und damit viele Tränen und auch viele erleichterte Gesichter. Währenddessen wurde mir klar: Eine Familienaufstellung ist kaum besser, als eine gut genutzte Gelegenheit im Alltag! Was ist, wenn deine Eltern noch leben? Was ist, wenn deine Geschwister noch leben? Wieso sagst du ihnen nicht ehrlich ins Gesicht, was du von ihnen hältst? Wieso machst du deine innerlichen Verneigungen und Achtungs-Bekundungen, die du in einer Aufstellung machen würdest, nicht einfach zu einer Live-Show? Was kann eine Spiritualität bewirken, die sich innerhalb von Gruppenräumen abspielt?
Das Seminar ist zu Ende, du gehst aus dem Raum heraus und sobald du das erste mal an der roten Ampel hinter einem Opel- Vectra-Fahrer stehst, der nicht aus dem Quark kommt, sobald die Grünphase beginnt, ist es meist nicht mehr weit her mit deiner Spiritualität. Wenn du vom Raumspray nicht vollkommen benebelt bist, wird es einen Teil in dir geben, der sehr unspirituell sagt: „Komm, Oppa, fahr!!“ Wo bleibt da die Verneigung? Sie findet höchstens dann statt, wenn es wieder rot wird, der Fahrer vor dir endlich doch GANZ eingeschlafen ist und du dich zum Übergeben vorn überbeugst.
Wie kann es möglich sein, dass Spiritualität wirklich authentisch in unserem Alltag Einzug halten kann? Ich möchte keine Tipps geben. Außerdem glaube ich sowieso nicht an Patentrezepte.
Aber wenn es etwas wirklich gibt, dann den jetzigen Moment. Er umfasst diese minimale, hauchzarte Zeitspanne zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und in diesem wirklich fast unscheinbaren Moment liegt unser ganzes Lebensglück. Und dort liegt auch die Spiritualität, die du in deinem Alltag leben kannst. Denn in einem solchen Moment bist du vollkommen präsent. Nutze diese Gelegenheit und sei authentisch. Sonst ist der Moment vorbei und du hast deine Gelegenheit verpasst. Das ist es doch, was Spiritualität ausmacht, oder?
Vergiss das ganze heilige Gequatsche von den Dingen, die sich nur umsetzen lassen, wenn du dir selbst „Gewalt“ und Restriktion antust.
Im Hier und Jetzt, das ich als authentische Spiritualität bezeichne, fluchst du vielleicht, gibst deiner Wut Raum und du spürst: das ist nicht deine wahre Natur. Und so ist es. Nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht bist du auch noch von deiner letzten Familienaufstellung oder deiner letzten Atemsitzung durchgeschüttelt. Auch dann nimmst du in diesem Moment wahr: It's over! Ich bin Jetzt. Und genauso kannst du auch vor deiner echten Mutter stehen, während sie dir wirres Zeug von ihren Kaffeetanten-Freundinnen erzählt und spürst einfach tief in dir: Mama, ich liebe dich.
In diesem äußerst kurzen Moment, der sich jeden Moment neu selbst erschafft, gibt es keine Urteile. Da gibt es allerdings auch keine guten Geister. Da gibt es nur deine wahre Natur. Der Vectra-Fahrer (auch wenn er einen Hut trug) ist dir im Hier und Jetzt egal. Du spürst einfach deinen Körper, den pulsierenden Strom des Lebens, wie er durch dich hindurch fließt und bist frei. Dieses Freisein ist vollkommen authentisch. Das ist viel spiritueller als sich Engelflügel anzubinden oder mit Reiki alle Probleme dieser Erde lösen zu wollen.
Authentisch zu sein bedeutet, dass sich andere an dir reiben können. Du bist kein Halbgott und schon gar nicht in Weiß. Sondern du lebst! Und Leben hat Sonnen- und Schattenseiten. Leben hat Sturm und Regen. All das ist in Dir. Immer. Jetzt. Falls du es nicht wahrnehmen kannst, weil du glaubst, dass du das alles schon transformiert hast, dann träumst du. Doch dann kann keiner mehr wachsen. Wenn alles perfekt und harmonisch ist, können wir ja alle wieder einschlafen. Dann waren all deine Atemsitzungen, spirituellen Einweihungen und unser aller Bemühungen, das kollektive Bewusstsein anzuheben, sowieso umsonst.
Herzlichst Oliver Unger