Sei fleißig wie die Ameise und die Selbstzerstörung von Edgar
Ein spiritueller Reisebericht über ehrenamtliche Arbeit mit Straßenkindern in Nicaragua
von Oliver Unger
18. Woche
Tagebucheintrag 9. Juli - Sei fleißig wie die Ameise
Die Ameisen hier sind echt der Hammer. Filadelfo sagt immer „Sei fleißig wie die Ameise. Wer arbeitet, hat auch zu essen”. Man muss gucken, ob da die Kirchenväter Gottes Botschaft nicht zu stark vereinfacht haben. Wahr ist aber, dass die Ameise wirklich schnell bei der Sache ist. So habe ich das bisher noch nicht gesehen.
Die kleinen Wunderkrabbelviecher bilden sofort ihre Straßen, wenn es etwas zu transportieren gibt. Heute Morgen sah ich einen Brotkrumen, der mir anscheinend runtergefallen war, quer über die Terrasse wandern. Ich habe dann noch einen hinterhergeworfen. Der wanderte schon wenige Sekunden später in dieselbe Richtung. Dann noch einer und noch einer ... Vier Brotkrumen wackelten ans andere Ende der Terrasse. Und das in einem Affenzahn, wenn man die Größe einer Ameise bedenkt.
Ich habe beobachtet, wie sie sich in Windeseile zu Gruppen zusammentun und sich offenbar vollkommen einig sind. Und ich bezweifle, dass sie lange herummeckern oder noch mal schnell den Fernseher einschalten, bevor sie loslegen. Ich dachte: „Wenn wir Menschen auch mal so gescheit wären.”
Edgards Selbstzerstörung
Ich will bei meiner Arbeit mit den Chavalos subtiler werden. Das ist, glaube ich, eine sehr weise Entscheidung. Während einer „Sitzung”, die Yahaira und ich ja auch schon mal machen, lügen die Chavalos viel. Aber wenn man zum Beispiel mit ihnen die Mangos zusammenfegt oder einfach nur so herumhängt und quatscht, rutscht ihnen schon mal etwas heraus, das sie sonst nicht gesagt hätten.
Jonathán und Edgard saßen heute mit mir am Tisch und wir flachsten herum. Und da stellte Jonathán Edgard eine Frage, die er besser zu einem anderen Zeitpunkt gestellt hätte: „Wie viel hat er dir bezahlt?”
Da war alles klar. Zur Erinnerung: Edgards Augenbrauen waren auf einmal abrasiert. Am Dienstag erschien er zum ersten Mal ohne. Yahaira und ich hatten ja schon einen Verdacht, und jetzt hörte ich die Bestätigung. Edgard hat für seine Dienstleistung 50 Córdobas bekommen (2,50 Dollar). Wahnsinn - das reicht gerade für ein Glas Klebstoff!
Ich erzählte Yahaira davon, und sie bat mich, ein Gespräch mit Edgard zu führen. Ich habe ihn direkt angesprochen. Er war zwar mit etwas anderem beschäftigt, aber ich dachte, es ist sowieso immer der falsche Zeitpunkt, egal, wann ich es mache. Ich sagte: „Edgard, hast du zwei Minuten für ein Gespräch?”
Er nickte.
„Wirklich?”, fragte ich nach.
Er nickte.
„Schluck bitte niemals den Samen von anderen Männern!”
Er erschrak und verbarg sein Gesicht hinter den Händen. Kurz darauf rannte er zu Jonathán und beschimpfte ihn, vor Scham lachend. Dann warf er sich zu Boden und schloss die Augen.
Ich setzte mich zu ihm und fuhr fort - Augen zu hilft ja nicht, wenn man akustische Signale abhalten möchte. „Edgard, es ist mir egal, was für Sex du praktizierst. Aber ich sage dir, dass du dich bitte vor HIV und Aids schützen sollst. Zieht euch bitte Kondome über. Aids ist eine ziemliche Quälerei.”
„Ich will sowieso sterben.”
„Da gibt es einfachere Wege. Frag jemanden, ob er dich mit einem Messer ersticht, oder spring von einer Brücke. Das geht schneller, tut weniger weh und ist sicherer.”
In diesem Stil tauschten wir noch den einen oder anderen Standpunkt aus. Dann ließ ich von ihm ab.
Ich fange langsam an, diese Touristen zu hassen, die die Situation der Straßenkinder für ihren sexuellen Vorteil ausnutzen.
Das wird nicht so bleiben, ich werde mich sicherlich nicht mit Hass anfüllen. Aber es ist eben gerade da.
Später am Tag hatte ich einen weiteren intensiven Kontakt mit Edgard.
Weitere Erfahrungen zu meinem spirituellen Reisbericht gebe ich Ihnen gerne in der nächsten Woche. Ich freue mich über jede Rückmeldung und jede Frage.
Herzlichst Ihr Oliver Unger
Unterstütze das Buchprojekt „Rohdiamanten“ mit einer Spende (für Lektorat etc.). Der Erlös aus dem Verkauf des fertigen Buches schafft eine regelmäßige Spendengrundlage für die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua. Mehr Information findest Du auf tiefberuehrt.de/page/hilfe-fuer-nicaragua
Es danken Dir im Voraus Oliver Unger, Projekt-Förderer Bernd V., Lektorin Michélle P., Jonathán, Karla, Ana María, Francisco und Freunde aus Granada, Nicaragua