Wie vermeide ich am besten meinen Schmerz?
von Oliver Unger -
Moderne Leiden und deren fortschrittliche Erlösungsversuche.
Jede Zeit hat wohl seine eigene Leid-Vermeidungsstrategie und seine eigenen Wehwehchen. Menschen haben seit jeher vergeblich versucht, das Leid in den „Griff zu bekommen“. Dies geschah oft durch „Gesetze“, die vorsahen, Ablass zu kassieren, Hexen zu verbrennen, die Welt von Juden zu befreien. Die Menschen, die diese Bewegungen initiiert haben, dachten damals von sich selbst, sie seien fortschrittlich und würden gegen das Leid ankämpfen. Dabei haben sie es erst hervorgebracht. Man könnte sagen: Sie waren einfach nur Begründer der aktuellen Irrtümer. Sie haben bewirkt, dass sich das Leid über die Jahrhunderte hinweg nur auf andere Ebenen verschoben hat. Neurosen und moderne Wohlstandskrankheiten wie Asthma, Diabetes oder Fettleber sind die Folgen davon und damit wahrscheinlich ebenso absurd und unnötig wie Ausbeutung, Verfolgung und Kriege.
Würde jemand aus der Zukunft mit einer Zeitmaschine zu uns stoßen und uns beobachten, der würde sagen: „Wie dumm sind die denn? Dieser Stress ließe sich ganz leicht vermeiden.“ Wir selbst können nicht sehen wie. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass es keinen Weg gibt.
Bevor Thomas Alpha Edison die Glühbirne erfand, hätten wir auch niemals gedacht, dass es eine andere Lichtquelle gäbe als Kerzen oder Öllampen.
Wozu dieser Ausflug? Die Vergangenheit ist doch vorbei! Die Antwort lautet: Wir haben nicht wirklich dazugelernt. Wir vollziehen seit Jahrhunderten die gleiche Laier: Vermeidung im Jetzt und Verschiebung auf später. Wir wollen lieber zaubern, statt konfrontieren. Und dafür sind wir lediglich moderner und komplexer geworden. Man kann die Dummheit einfach nur nicht mehr erkennen, weil sie durch tolle Geräte, Kittel und Positionen getarnt ist. Aber gelöst haben wir noch lange nichts. In wissenschaftlich ökonomischer, ökologischer und medizinischer Fachliteratur haben wir festgehalten und verkompliziert, was sich mit einfachen Worten ausdrücken ließe: Einsamkeit, Unfähigkeit, sich mit Emotionen auseinanderzusetzen, Beziehungsschwierigkeiten, Umweltvergiftung, Ausbeutung des Planeten und vieles mehr sind die modernen Leiden des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Was wäre, wenn die Bibel recht hätte? Was wäre, wenn Leid doch nötig wäre, um erlöst zu werden?
Fest steht, wir leiden immer noch. Vielleicht liegt es daran, dass wir uns dem Leid nie gestellt haben. Wir wollten es bisher immer nur vermeiden. Heute vermeiden wir es (scheinbar) mit den Errungenschaften moderner Medizin, z.B. Ritalin, den Nachrichten und – so schlimm dies klingen mag- auch mit der allgemeinen spirituellen Bewegung. Was ganz nah bei uns selbst liegen würde, ja sogar IN uns, suchen wir irgendwo in der Ferne. Trotz besseren Wissens aus der Vergangenheit, sind wir mal wieder dabei, Leid auf eine andere Ebene zu bringen, statt ihm ins Auge zu sehen: Wer wird es sein, der sich mit unseren verdrängten Emotionen auseinandersetzen muss, wenn wir es jetzt nicht tun? Und wer wird sich der Ritalin-betäubten Kinder annehmen, wenn sie erwachsen sind und auf ihrem Weg dorthin Wesentliches nicht bekommen oder erlernt haben? Wer wird den Planeten wieder in Ordnung bringen, wenn alles verseucht ist, alle Bäume gefällt sind und es keinen Sauerstoff mehr zum Atmen gibt? Der gleiche Fragen kann man viele stellen.
Manche suchen scheinbar nach einem Zauberstab. „Komm, sagen wir dreimal Abracadabra! Und lass uns glauben, alles sei danach besser.“ Du wirst krank und du nimmst eine Tablette, die deine Symptome fortzaubert. Wenn du ganz fortschrittlich bist, gehst du zum Heiler und lässt deinen Energiefluss im Körper wieder in die richtige Bahn lenken, damit das Symptom sich in göttliche Energie transformieren kann.
Wehe, wenn wir nach unserem Zauberspruch die Augen öffnen und feststellen, dass nichts besser geworden ist. Dann verschließen wir die Augen erneut, statt zu fragen „Was sollte ich mir ansehen?“. Unsere magischen Mittel, wie Fernsehen, die so genannte Aufklärung, Medikamente, Therapien und spirituelle Lebensweisen, lösen unser Leid nicht, wenn wir mal ehrlich sind. Sie unterstützen uns darin, weiterzuschlafen. Sie verwandeln das Gesicht des Leids. Sie verschieben es auf die nächste Generation. Der Vorteil ist: Wir brauchen keine Geißel mehr. Heute reichen die hypnotisierende Wirkung von Geld und eine kleine Portion Ignoranz, um sich im Höchstmaße zu schaden. Ist das Fortschritt?
Herzlichst Oliver Unger
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