Lieber Gott, was machst du hier mit mir?
Ein spiritueller Reisebericht über ehrenamtliche Arbeit mit Straßenkindern in Nicaragua
von Oliver Unger
8. Woche
Das Zentrum strebt unter Anderem Versöhnung der Jugendlichen mit den Familien an. Diese würde theoretisch eine große Ressource darstellen. Aber diese Versöhnung ist ein Ideal, keine Realität. Eine Rückkehr in die Familie ist in den allermeisten Fälle nicht möglich.
Drei der Jugendlichen sind in den drei Monaten freiwillig zu ihrer Familie zurückgekehrt, ein vierter Junge hat eine „Pflegemama“ gefunden. Und alle vier befanden sich nach mehr oder weniger drei Wochen wieder auf der Straße in ihrem alten Zustand- manchmal sogar schlimmer.
Gefühle von „gescheitert sein“ haben sie verleitet, ihre Lösungsmittel „noch tiefer“ einzuatmen und damit ihren Schmerz zu betäuben. Das scheint ein Teufelskreis zu sein, der nicht durchbrochen werden kann: Der Wunsch nach Rückkehr, womit ein Wiedereintauchen in das alte Trauma unvermeidlich ist, das „Versagen“ und die Rückkehr in die prekäre obdachlose und süchtige Situation.
Die Ursache für die neuerliche Flucht aus den Familien waren entweder Gewalt oder die mangelnde Kapazität sowohl der Eltern/Pflegeeltern, als auch der Jugendlichen, Konflikte zu tolerieren und zu lösen.
Das von mir entwickelte System zur Aktivierung der Selbstheilung und Integration spiritueller Erkenntnis in den Körper „Tief berührt“ ist eine Möglichkeit, eine innere Haltung und Sprache zu vermitteln, die beiden Konfliktparteien ermöglicht, miteinander zu kommunizieren und gegenseitigen Raum zur Lösung zu schaffen. Ich scheiterte an der Kürze der Zeit.
Die systemische Ebene des Zentrums
Auf der größeren, systemischen Ebene des Zentrums ist durch meine Arbeit auch Entladung geschehen. Diese hatte Anfangs den Effekt, dass die Gruppe, wie beschrieben, insgesamt „ruhiger“ wurde. Später scheinen verdrängte Konflikte wieder ins Bewusstsein gekommen zu sein. Sie waren zuvor nur spürbar, fanden aber keinen Platz.
Diese Beobachtung fand ich spannend. Zumal man denken könnte, wenn sich eine Spannung entlädt, wird es ausschließlich friedlicher. Auf der körperlichen Ebene mag das sein, aber auf der systemischen Ebene scheint das nicht zuzutreffen. Wenn ein System, aus dem etwas, z.B. ein Konflikt, abgespalten/ausgeschlossen wurde, sich zu entladen beginnt, kommt zunächst der „Ausdruck“ von dem, was fehlte wieder zurück, z.B. durch Worte. Diese können dann in offenen Konflikten (statt wie bisher einer nebligen, angespannten Situation) ausgesprochen werden.
So transformierte sich zum Beispiel der „Nebel“, der zwischen den Kollegen herrschte, nach und nach in Anschuldigungen, gegenseitige Missachtungen und Vorwürfe, die dann nach und nach (wie von selbst) in Teambesprechungen einen Platz finden und sich teilweise lösen durften.
Fest steht, die Übertragungsreaktionen, die von den Jugendlichen auf die Betreuergruppe übergehen, haben es ebenso in sich, wie die Übertragungen, die ich gespürt habe, als ich mit ihnen gearbeitet hatte.
Vielleicht bin ich mit mehr Fragen als Antworten aus meiner Arbeit mit diesen Straßenkindern zurückgekehrt. Eins ist sicher: „Weniger tun“ und „mehr erlauben“ hat eine große Wirkung. Diese Erfahrung konnte ich in meine Arbeit hier, die ich inzwischen als „Luxus“ bezeichne, einfließen lassen.
Tagebucheintrag 7. Juli
„Lieber Gott, was machst du hier mit mir?”
Ich lerne hier, glaube ich, auch das Beten. Heute nach Feierabend hatte ich mal wieder das Gefühl, dass der geschlechtslose Herr da oben mit dem Presslufthammer auf meine inneren Beschränkungen losgegangen ist. Na ja, ich will mich nicht beschweren. Ich habe es ihm ja auch erlaubt. Aber selbst wenn nicht - ich denke, dem Neutrum mit dem weißen Bart ist das eh egal. Das sitzt ja sicher auf seiner weißen Wolke.
Weitere Erfahrungen zu meinem spirituellen Reisbericht gebe ich Ihnen gerne in der nächsten Woche. Ich freue mich über jede Rückmeldung und jede Frage.
Herzlichst Ihr Oliver Unger
Unterstütze das Buchprojekt „Rohdiamanten“ mit einer Spende (für Lektorat etc.). Der Erlös aus dem Verkauf des fertigen Buches schafft eine regelmäßige Spendengrundlage für die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua. Mehr Information findest Du auf tiefberuehrt.de/page/hilfe-fuer-nicaragua
Es danken Dir im Voraus Oliver Unger, Projekt-Förderer Bernd V., Lektorin Michélle P., Jonathán, Karla, Ana María, Francisco und Freunde aus Granada, Nicaragua