„Kann es einen absolut gesunden Organismus geben, der jeden Stress, jede Belastung gut verkraften kann, ohne dass die Person davon beeinträchtigt wird?“
Krankheit öffnet uns Tür und Tor, um unsere inneren Begrenzungen zu sprengen. Dadurch ist sie wie eine Zwischenstation zu betrachten. Doch was geschieht, wenn die Krankheit tödlich endet?
Wie kann der Tod Bestandteil von Heilung sein?
von Oliver Unger
Natürlich führt so manche Erkrankung manchmal zum Tod des physischen Körpers. Streng genommen ist sogar jede Krankheit eine Art Tod. Auf zellulärer Ebene stirbt etwas in dir. Das macht Schmerzen, das lässt die Nase laufen, das bringt Deformierungen in dir hervor. Tod ist die höchste Transformation, die wir in dieser Seinsebene durchlaufen.
Die Abwehr von Tod ist gleichzeitig die Abwehr dieser Transformation. Würde sie zugelassen, ohne Gegenwehr, bräuchte der Körper keine Deformationen, keine Dysregulationen. Folglich macht die Abwehr von Tod in unserem Verständnis „krank“.
Wir vergessen, dass auch Gesundheit zum Tod führt. Alles führt zum Tod. Doch nur bei Betrachtung einer Krankheit schränken wir unsere Fähigkeit ein, offensichtlich zu erkennen, dass unser Leben (sowie Krankheit oder Gesundheit) nur eine Zwischenstation darstellt.
Auf diese Weise eingeschränkt betrachtet, sieht es tatsächlich so aus, als habe Krankheit über das Ende eines Lebens bestimmt. Doch dieser Kontext ist zu klein gefasst. Er kann nur in einem eingeschränkten Blickwinkel bestehen, in dem man dabei ausschließlich an die Körperlichkeit einer Person denkt und ihre Seele, ihr Potenzial bei der Betrachtung außen vor lässt. Eine gesamte Persönlichkeit umfasst jedoch sowohl die körperlichen Funktionen als auch das Denken, Verhalten, Fühlen einer Person.
Ebenso gehört die Seele einer Person dazu. Ich definiere die Seele hier als „das höhere, das gesammelte Wissen und die gesammelte Erfahrung einer Person“. Körper, Geist, Seele einer Person nenne ich das „individuelle System“. Bezieht man dieses in seine Betrachtungsweisen mit ein, also die gesamte Persönlichkeit, spürt man sofort, dass in der Zeit (meist unmittelbar) vor dem Tod der Person etwas in Bewegung gekommen ist, das vorher stagniert hatte. Hieran erkennt man die transformierende Wirkung von „Todesenergie“.
Wird eine Person als Teil eines größeren Zusammenhangs gesehen, fällt es sogar oft noch leichter zu erkennen, dass eine Krankheit Heilung bewirkt hat. Jeder Mensch ist ja nicht nur in seinem Körper eingebettet, sondern auch in einen Lebensraum, eine Gruppe, eine Familie. Ich nenne das das Biotop des „individuellen Systems“ oder auch das „Gruppensystem“.
Auch dieses ist in seine Betrachtungen mit einzubeziehen, wenn du herausfinden möchtest, wie der Tod Dinge transformieren und heilen kann.
Manche denken, wenn jemand verstoben ist, sei er fort. Doch nur sein Körper ist fort. Sein Ego, seine Denkmuster sind fort. Aber die Person ist noch da. Diese beständige Anwesenheit bewirkt im Angesicht des Todes und nach Verlassen des Körpers im Gruppensystem immense Veränderungen, die als Regulation der Gruppe angesehen werden können.
Ein Beispiel sind die berühmten Erbschafts-Streitigkeiten unter Hinterbliebenen. Sie zeigen scheinbar, dass etwas in Unordnung gekommen ist. Man denkt, nur durch den Tod sei der Streit ausgelöst worden. In Wahrheit ist er aber immer schon da gewesen - nur auf einer unaussprechlichen, nicht greifbaren Ebene. Der Tod des „Vererbers“ bewegt die Schachfiguren auf dem Spielbrett so, dass die schwelende Aggression endlich ihren Ausdruck finden kann.
So wie jede neue These sich nicht auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse stützen kann, kann auch diese es nicht. Sie stützt sich auf Beobachtungen, z.B. aus Familienaufstellungen und aus dem Umfeld, das mich persönlich umgibt. Daraus entstehen neuartige Annahmen. Wenn es Forschungen geben würde, wäre die These ja auch nicht neu. Deswegen lasse ich dich hier (unfreiwillig) von Forschungsergebnissen verschont. Dir bleibt wohl zunächst nichts anderes übrig als damit zu leben und alte Sichtweisen sterben zu lassen.
Ich rege dich zur Beobachtung an: Betreibe deine eigenen Forschungen. Beginne damit, zu beobachten, was mit dir geschieht, nachdem du eine Krankheit überstanden hast. Oder schau dir an, was geschieht in einem Umfeld, wenn jemand durch eine Krankheit verstorben ist. Sieh dir auch genau an, was mit anderen geschieht, die eine Krankheit durchleben und überstehen. Ist es dir nicht auch schon einmal aufgefallen, dass sich Themen während einer Krankheitsphase aufzulösen scheinen?
Teil 5 „Heilung ist banal und scheint selbstverständlich“ folgt kommende Woche.
Ihr Oliver Unger