Erhalt des eigenen Lebens um jeden Preis
Ein spiritueller Reisebericht über ehrenamtliche Arbeit mit Straßenkindern in Nicaragua
von Oliver Unger
3. Woche
Ich nenne die Chavalos aus Nicaragua „Rohdiamanten“, weil sie solche sind. Ihre Qualität erkennt man vielleicht erst auf den zweiten Blick. Doch schaut man über ihre Psychologie hinaus, erkennt man sehr schnell, wie rein, wertvoll und klar sie sind. Man könnte sie vielleicht „schleifen“ – dies würde nur mit einem anderen Diamanten gelingen. Mein Weg war, sie so gut wie möglich anzunehmen, wie sie sind, und von ihnen etwas über mich zu lernen.
Verpackt in Fallbeispiele, Dialoge und Gedanken findest du deine eigene Suche nach Selbsterkenntnis, dem Sinn des Lebens und nach Antworten auf Fragen zur (Selbst-)Liebe widergespiegelt.
Wie ist die Situation in Nicaragua?
Die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua, sind zwischen 8 und 29 Jahre alt. Sie stehen in den allermeisten Fällen nicht mehr in Kontakt mit ihren Familien. Tagsüber lungern sie im Zentralpark, einer Art Marktplatz, herum. Nachts schlafen sie entweder auf den Bürgersteigen, in Hauseingängen oder in verlassenen Gebäuden.
Man muss dazu sagen, dass die allgemeine wirtschaftliche Lage in Nicaragua gemessen mit unseren mitteleuropäischen Maßstäben, sehr schlecht ist. Die Familien sind kinderreich und oft geht von fünf Köpfen nur einer arbeiten.
Das durchschnittliche Tages-Einkommen eines Arbeiters liegt bei 2 Dollar pro Tag. Natürlich sind die Lebensmittel und Wohnungen günstiger als hier und trotzdem führt die Inflation viele Menschen sichtbar in die Armut.
Viele Menschen konsumieren Alkohol und Drogen, vor allem Lösungsmittel, meist durch Inhalation von Klebstoff. Auch Crack und Marihuana werden häufig geraucht.
Der Bürgerkrieg, der erst etwa zwanzig Jahre vorbei ist, hat die Menschen sowohl kollektiv als auch einzeln traumatisiert. Meiner Einschätzung nach sind die Auswirkungen hiervon tagtäglich zu spüren. Wenn man einzelne Personen darauf anspricht, geben sie das nicht zu, aber oft gehen sie in Dissoziation, wenn sie auf Fragen antworten, die sich auf den Krieg beziehen.
Der große Pegel der Aktivierung wird sowohl durch den Drogenkonsum als auch durch häusliche Gewalt kompensiert. Man spricht hier gerne vom so genannten „Machismo“. Das bedeutet, der Mann hat die Herrschaft und betrachtet die Frau als Subjekt, das ihm zu folgen hat.
Aber es ist nicht bloß der Machismo, der Gewalt hervorbringt. Es sind ebenso die Ängste vor wirtschaftlichem Untergang, die mangelnde Bildung und die mangelnde psychologische und soziale Versorgung durch gut ausgebildete Fachkräfte, die unter den Menschen eine unsichere und aggressive Stimmung fördern.
Die Medien fördern diese Bewegung. In jeder einfachen Hütte, sei sie ohne Boden oder ohne Möbel, steht ein Fernseher, der zweierlei Bilder zeigt: In den Filmen und Serien bekommen die Zuschauer Illusionen von einer heilen, reichen und perfekten (US-amerikanischen) Welt dargeboten. Und zwischendrin gibt es beunruhigende Nachrichten aus dem Land selbst - wobei der kleinste unbedeutendste Anlass genommen wird, darüber negativ zu berichten.
Treffen Angst und unbefriedigte Gier aufeinander, verlieren die Menschen einen großen Teil ihrer inneren Ressourcen. Die Schönheit der Natur, der Reichtum, der an dem Bäumen wächst, kann kaum bis gar nicht mehr wahrgenommen werden.
Zwischenmenschliche Bindungen verlieren ihren Stellenwert, der Fokus verschiebt sich auf „Erhalt des eigenen Lebens um jeden Preis.“ So entstehen (Verzweiflungs-)Prostitution, Diebstahl und Inauthentizität um des Überleben willens.
Weitere Erfahrungen zu meinem spirituellen Reisbericht gebe ich Ihnen gerne in der nächsten Woche. Ich freue mich über jede Rückmeldung und jede Frage.
Herzlichst Ihr Oliver Unger
Unterstütze das Buchprojekt „Rohdiamanten“ mit einer Spende (für Lektorat etc.). Der Erlös aus dem Verkauf des fertigen Buches schafft eine regelmäßige Spendengrundlage für die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua. Mehr Information findest Du auf tiefberuehrt.de/page/hilfe-fuer-nicaragua
Es danken Dir im Voraus Oliver Unger, Projekt-Förderer Bernd V., Lektorin Michélle P., Jonathán, Karla, Ana María, Francisco und Freunde aus Granada, Nicaragua