Emotionaler Tsunami
Ein spiritueller Reisebericht über ehrenamtliche Arbeit mit Straßenkindern in Nicaragua
von Oliver Unger
11. Woche
Fortsetzung Tagebucheintrag 7. Juli
Ich setzte mich zu ihm und er begann ganz massiv an seinen Fingernägeln zu kauen. Das sah so heftig aus, dass ich fast nicht hinsehen konnte. Ich fragte ihn: „Haben sie dir wieder Gewalt angetan?”
Er schüttelte den Kopf.
„Sicher?”
Er wiederholte die Geste und riss sich mit den Zähnen ein Stück Nagel oder Haut von seinem Finger. Dann schaute er mich an. Sein Blick war eindringlich, fast forsch. Vielleicht sogar wie im Wahn. Ich schaute zurück. Ich hatte die Hoffnung, er sei jetzt „wieder da” und ich könne Kontakt aufnehmen.
Plötzlich öffnete Jonathan ganz langsam seinen Mund. Sein Blick war starr auf mich gerichtet. Er spielte mit der Zunge. Ich konnte erst nicht erkennen, was er da hatte, aber eine Art elektrischer Schlag durchfuhr mich, weil ich ahnte, jetzt kommt etwas, das nicht leicht zu verkraften ist. Sein Blick hatte mich indes total aufgesogen, ich war wie in Hypnose, gefangen von dieser heftigen Übertragungsreaktion.
Es war eine Scherbe!
Er hatte eine Scherbe im Mund.
Instinktiv griff ich danach- das war schlecht, denn er verschloss den Mund!
„Hilf mir, lieber Gott!”, flehte ich innerlich.
Wieder war alles wie beim letzten Mal. Es dauerte nur eine Sekunde, aber es fühlte sich an wie Minuten. Leere. Nichts, keine Antwort. Mein Körper bebte innerlich. Jetzt keinen Fehler machen!
Yahaira kam in diesem Moment vorbei. „Er hat die Scherbe im Mund”, sagte ich ihr.
Sie schüttelte wütend den Kopf. „Lass ihn!”
Ich konnte das nicht. Er fühlte sich so traurig an.
Dann wurde mir klar: Die Scherbe im Mund ist das eine. Sich selbst verletzen auch. Das ist seine Entscheidung. Das muss ich bei ihm lassen. Es ist sein Leben. Aber in der Traurigkeit kann ich ihn begleiten. Das liegt in meinem Kompetenzbereich.
Also setzte ich mich an Jonatháns Füße und richtete meinen Blick in eine andere Richtung. Ich wollte nicht sehen, was mit seiner Zunge passierte. Und ich wollte nicht wissen, ob da Blut ist oder ob er die Scherbe runterschluckt. NICHTS von dem! Aber ich wollte bei ihm sein und seinen Körper dabei unterstützen, mit dieser heftigen Flut von Emotionen umzugehen.
Auch diesmal überschwemmte mich ein Tsunami von Trauer. Ich habe mehrfach das Reiki-Meistersymbol vor meinem inneren Auge visualisiert, damit mein „Kanal” offen bleibt und ich nicht in dieser Welle ertrinke. Mir war auch egal, ob ich ihn damit einweihe oder nicht. Ich wollte einfach präsent bleiben und den größtmöglichen Raum eröffnen. Ich hielt seine Füße und schaute konsequent weg. Aber ich spürte, wie sein System sich schnell beruhigte.
Ich wechselte noch ein paar Mal intuitiv die Handposition, wobei ich die Augen schloss oder auf meine Hände schaute. Am Schluss berührte ich seine Hände, die immer noch über seinem Kopf ruhten. Er fühlte sich gut an. Der Tsunami war vorbei.
Ich stand auf und ging hinaus. „Jetzt ist meine Arbeit getan. Der Rest ist Jonatháns und Gottes Entscheidung.”
Diesmal beruhigte ich mich schneller. In mir stiegen einige Bilder hoch. Eines der Bilder vor meinem inneren Auge zeigte, wie Jonathán gefesselt irgendwo lag. Daraufhin schaltete ich meine „Bildschirmfunktion” ab. Das kann ich zum Glück. Dann habe ich mich noch einmal selbst in das Meistersymbol eingehüllt. Das wirkt Wunder und „zieht” quasi alle „Reste”, die vom anderen noch in einem sind, aus dem System.
Danach ging ich wieder hinein. Ich fühlte mich stabil genug, um zu sehen, wie es mit Jonathán weitergegangen war.
Er hatte die Scherbe aus dem Mund genommen. Ich weiß nicht, welchen Schaden sie angerichtet hat. Ich habe kein Blut gesehen. Ich sagte ihm, dass ich sehr traurig werde, wenn er sich etwas antut. Und fügte hinzu, dass ich ihn aber nicht davon abhalten würde und dass es seine Entscheidung sei. Ich erklärte ihm, dass ich ihm mit seiner Trauer helfen kann und versprach, dass er mich deswegen jederzeit ansprechen könne. Ich zeigte ihm, wie er seinen Energiefluss selbst durch ein paar Bewegungen in Gang setzen kann, sodass er dafür keine Scherben braucht.
Er nickte.
Alles gut.
Weitere Erfahrungen zu meinem spirituellen Reisbericht gebe ich Ihnen gerne in der nächsten Woche. Ich freue mich über jede Rückmeldung und jede Frage.
Herzlichst Ihr Oliver Unger
Unterstütze das Buchprojekt „Rohdiamanten“ mit einer Spende (für Lektorat etc.). Der Erlös aus dem Verkauf des fertigen Buches schafft eine regelmäßige Spendengrundlage für die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua. Mehr Information findest Du auf tiefberuehrt.de/page/hilfe-fuer-nicaragua
Es danken Dir im Voraus Oliver Unger, Projekt-Förderer Bernd V., Lektorin Michélle P., Jonathán, Karla, Ana María, Francisco und Freunde aus Granada, Nicaragua