Der geprügelte Junge Ernesto
Ein spiritueller Reisebericht über ehrenamtliche Arbeit mit Straßenkindern in Nicaragua
von Oliver Unger
13. Woche
Tagebucheintrag 7. Juli - Ernesto
Ernesto (18), der geprügelte Junge, ist heute wieder im Zentrum aufgetaucht. Die Blutergüsse sehen schon viel besser aus. Auch die „Schnittwunde” ist ganz in Ordnung. Bei der Gartenarbeit hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, Ernesto ein bisschen besser kennenzulernen. Unser Einstand war allerdings etwas schwierig. Man merkt, dass es in seiner Familie Grenzverletzungen gibt.
Wir haben über "versaute" Ausdrücke gesprochen. Für die Chavalos ist es natürlich spannend, wenn ich als Betreuer Wörter in den Mund nehme, die sie eigentlich nicht benutzen dürfen. Aber es hat sich im Gespräch so ergeben und ich habe das genutzt, um mit Ernesto Kontakt aufzunehmen. Doch als Ernesto dann begann, mit diesen Wörtern auf Karla einzureden, bekam sie Angst, dass sie bestraft würde, und hat uns bei Fila und Yahaira verpetzt. Hätte ich an ihrer Stelle wahrscheinlich auch getan. Sie bekommt schließlich oft gesagt, was sie alles nicht richtig macht ... Daraufhin erklärte ich Ernesto, dass wir nun damit aufhören müssten.
Das wollte er aber anscheinend nicht. Er fragte immer wieder: „Was muss man machen, um Kinder zu kriegen?” Ich hatte zuvor immer geantwortet: „Poppen”, und er hatte gelacht. Aber nun sagte ich: „Ernesto, jedes Spiel hat einen Anfang und ein Ende. Und dieses Spiel ist jetzt vorbei.”
Aber er hörte nicht auf, mich das zu fragen. Yahaira arbeitete mit ihrer Forke in der Nähe und warf mir schon bald einen fragenden, ein wenig vorwurfsvollen Blick zu. „Es ist meine Schuld”, sagte ich zu ihr. „Ich wusste nicht, dass ich ihn damit so anheize.”
„Schon gut. So ist er.”
Ich habe ihm dann die Aufmerksamkeit entzogen. Wie bei der Hundeerziehung. Das hat funktioniert.
Amis im Zentrum
Zu all dem Geschiss von heute kamen dann auch noch zwei Amis zu uns ins Zentrum. Die Szene war mal wieder total typisch: Das Eingangstor öffnete sich und ein Auto fuhr auf den Hof. Die gehen echt keinen Millimeter zu Fuß!
Es handelte sich um Pater Jimmy und seine Frau, die in den USA Geld für ein anderes Zentrum in Granada sammeln. Jesús Amigo und Cristo Sana („Christus macht gesund”), das andere Zentrum, arbeiten mehr oder weniger Hand in Hand. Wie ich später erfuhr, wollten Pater Jimmy und seine Frau herausfinden, ob es nicht sinnvoll ist, das gesammelte Geld auf beide Zentren aufzuteilen. Um mehr Informationen über die Pläne, Ziele, Abläufe und den Nutzen des Zentrums zu bekommen, haben sie mit Filadelfo gesprochen. Das war eine gute Wahl. Der kann ganz gut „rumschleimen” und Visionen verkaufen.
Ich ahnte, dass sie deswegen gekommen waren. Als sie nach dem Gespräch das Büro verließen, heftete ich mich kurz an ihre Fersen. Ganz frisch, fromm, fröhlich, frei erklärte ich, dass wir wirklich großartige Pläne hätten und Bruder Emmanuel hier noch einiges rausholen würde.
Pater Jimmy war, glaube ich, ganz glücklich mit meiner Aussage. Ich habe einfach mal mein Gespür für einen guten Zweck ausgenutzt, und ich denke, ich konnte ihm so den letzten „Überzeugungsstoß” versetzen. Pater Jimmy merkte nämlich an, er sei anfangs nicht so überzeugt davon gewesen, Geld in unser Zentrum zu stecken, weil ihm Struktur und Ziele gefehlt hätten. Aber jetzt sei er zufrieden und glaube an die Pläne von Bruder Emmanuel.
Chakka!
Ich habe Bruder Emmanuel hinterher gefragt, wie er Pater Jimmy einschätze. Emmanuel winkte ab und sagte: „Die sollen mir gestohlen bleiben. Wenn die uns Geld geben, dann wollen die auch alles kontrollieren. Amis wollen immer alles kontrollieren.” Da hat er wohl recht.
Na ja. Drücken wir trotzdem mal die Daumen.
Intervision mit den Betreuern
Heute Nachmittag gab es die dritte Intervision mit den Betreuern. Im Moment befinden wir uns noch ganz am Anfang des Unterrichts. Ich hoffe, ich schaffe es in der Kürze der verbleibenden Zeit, dass die Betreuer meine und Dr. Levines Übungen mit den Chavalos fortsetzen können. Ihnen fehlt natürlich die Erfahrung, und sie springen damit ins kalte Wasser. Auch hier bete ich zu Gott, dass alles gut geht und meine Arbeit weitergetragen wird.
Weitere Erfahrungen zu meinem spirituellen Reisbericht gebe ich Ihnen gerne in der nächsten Woche. Ich freue mich über jede Rückmeldung und jede Frage.
Herzlichst Ihr Oliver Unger
Unterstütze das Buchprojekt „Rohdiamanten“ mit einer Spende (für Lektorat etc.). Der Erlös aus dem Verkauf des fertigen Buches schafft eine regelmäßige Spendengrundlage für die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua. Mehr Information findest Du auf tiefberuehrt.de/page/hilfe-fuer-nicaragua
Es danken Dir im Voraus Oliver Unger, Projekt-Förderer Bernd V., Lektorin Michélle P., Jonathán, Karla, Ana María, Francisco und Freunde aus Granada, Nicaragua