Die Grenzenlosigkeit bei Ernesto
Ein spiritueller Reisebericht über ehrenamtliche Arbeit mit Straßenkindern in Nicaragua
von Oliver Unger
16. Woche
Tagebucheintrag 8. Juli - Ernesto
Ich hatte mich vor Ernestos „Wiederkehr” ja nicht so ausgiebig mit ihm befasst. Jetzt tue ich das umso mehr. Er fühlte sich heute sehr schlapp, hat entweder geschlafen oder irgendeinen Blödsinn verzapft. Natürlich wollte er wieder versaute Wörter mit mir austauschen. Ich habe diesmal von Vorneherein abgeblockt.
Als ein paar Jungs und ich draußen im Garten saßen, fragte er wieder, was man mit seiner Verlobten macht. Ich antwortete: „Fernsehen, zusammen beten, zusammen essen.”
Zwischendurch hat er sein eregiertes Glied herausgeholt. Ich habe das gar nicht richtig gesehen, aber durch das Gekreische von José Abraham bemerkt, dass etwas Merkwürdiges vor sich gehen muss, und dann hinübergeschaut. Da war die Vorstellung aber schon fast wieder vorbei. Ich sah nur noch Hände nesteln und „Beulen”.
Der Junge hat anscheinend tatsächlich eine Grenzenlosigkeit, die sehr weit geht.
Ich habe ihm gesagt, dass er seine Bedürfnisse doch bitte auf der Toilette befriedigen soll, und ihn vor dem Ausschluss aus dem Zentrum gewarnt. Ich glaube, das hat ihn wenig interessiert, denn er wiederholte die Aktion, sobald ich wieder wegsah.
Heute Nachmittag habe ich das Thema in der Betreuer-Besprechung angeschnitten und gefragt, welche „kirchlichen” Beschränkungen ich für ein eventuelles Gespräch über „Sex ohne Partner(in)” mit ihm habe. Ich finde mich sehr respektvoll, weil mich die Konventionen der Kirche sonst ni miércoles (Ich liebe diesen Ausdruck, weil er anständig, aber doppeldeutig ist, so wie „Schei...benkleister”.) = keinen Deut interessieren. Schulterklopf!
Ich dachte, wenn ich weggehe, dann will ich für die anderen eine für sie tragbare Basis hinterlassen und nicht einen Garten voller Osho-Unkraut, mit dem sie nicht zurechtkommen. Ich fragte also danach und erhielt die Antwort, dass es keine Beschränkungen für ein solches Gespräch gäbe. Dann warte ich jetzt mal ab, wann der Jung dafür offen ist. Ich wollte schon immer mal Papa spielen.
Als Ernesto heute schlief, habe ich ihm ein bisschen Reiki gegeben. Das war am Anfang eine drastische Erfahrung für mich. Sein Energiekörper hat heftig gezittert und sich plötzlich ganz schnell in der Mitte der Wirbelsäule zusammengezogen. Dann hat er sich wie ein Wurm durch mich hindurch- und schwupps nach „oben” geschlängelt.
Danach fühlte er sich ruhig an. Ich ging weg und kam ein wenig später, nachdem er die Lage gewechselt hatte, zurück, um ihm eine weitere kurze Sitzung zu geben. Sein Herz war total verängstigt und hyperaktiv. Ich habe ihn einfach „gehalten” und gewartet. Es hat sich aber nur ganz wenig bis gar nicht beruhigt.
Als Ernesto eine bis zwei Stunden später aufwachte, sah er aus wie ein Kleinkind. Das war sehr rührend. Seine abgeklärte Maske war weg und ich konnte ganz tief in ihn hineinschauen. Spannend und berührend. Ich freue mich, dass ich jetzt mit Ernesto ein wenig Kontakt habe.
Irgendwie kann man sich nicht gleichzeitig und gleich intensiv um alle kümmern. Bei manchen öffnet sich etwas, und dann setze ich mich mit ihnen in Verbindung. Und bei anderen passiert weniger.
Manuel Salvador
Manuel Salvador (= Manuel, der Retter) ist auch so ein Spezialfall. Fila sagte, er sei auf dem geistigen Niveau eines Tieres. Das klingt schlimm, aber in gewisser Weise stimmt es. Und es macht ihn sehr gewöhnungsbedürftig. Er schreit viel herum, mischt sich in jedes Gespräch ein, und man kann quasi nichts mit ihm anfangen. Aber er ist freundlich. Und wenn er mal einen Moment lang nicht herumschreit und still ist, dann kann man in seinen Augen sein ganzes Herz sehen.
Das ist ähnlich wie bei Karla. Ich mag seine ungetrübte Ursprünglichkeit. Wenn ich meine inneren Beschränkungen überwinde, was mir meistens gut gelingt, dann bewundere ich ihn für seine Hemmungslosigkeit. Ihm passt etwas nicht? Einmal brüllen, hingehen, draufhauen, weggehen. Sonnenklare Handlung. Kein Geschiss, kein Blabla, kein Gerede um den heißen Brei. Man weiß immer, woran man ist. Der Mann ist die pure Authentizität.
Heute hat Sabrina vom Projekt Mosaik unserem Zentrum gebrauchte Kleidung geschenkt. Manuel Salvador brauchte eine Hose, und ich habe ihm die einzige, die dabei war, aus dem Kleiderhaufen herausgesucht. Darüber hat er sich, glaube ich, sehr gefreut, obwohl sie ihm gar nicht passte. Den ganzen restlichen Tag haben seine Augen geleuchtet. Das war total toll.
Bei der Trauma-Runde macht Manuel Salvador nicht mit. Er verkriecht sich wie ein räudiger Hund unter dem Tisch und brummelt irgendetwas vor sich hin.
Weitere Erfahrungen zu meinem spirituellen Reisbericht gebe ich Ihnen gerne in der nächsten Woche. Ich freue mich über jede Rückmeldung und jede Frage.
Herzlichst Ihr Oliver Unger
Unterstütze das Buchprojekt „Rohdiamanten“ mit einer Spende (für Lektorat etc.). Der Erlös aus dem Verkauf des fertigen Buches schafft eine regelmäßige Spendengrundlage für die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua. Mehr Information findest Du auf tiefberuehrt.de/page/hilfe-fuer-nicaragua
Es danken Dir im Voraus Oliver Unger, Projekt-Förderer Bernd V., Lektorin Michélle P., Jonathán, Karla, Ana María, Francisco und Freunde aus Granada, Nicaragua