Von Selbstvertrauen und Klarheit zu Instinkt und Liebe
Ein spiritueller Reisebericht über ehrenamtliche Arbeit mit Straßenkindern in Nicaragua
von Oliver Unger
12. Woche
Tagebucheintrag 7. Juli - Instinkt und Liebe
Alles gut. Für den Moment. Es gab Frühstück. Jonathán setzte sich dazu und aß normal. Ich habe kein Blut gesehen, weder an seinen Händen noch sonst wo. Ein Wunder? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ließ sich Jonathán nach dem Frühstück auf der Veranda nieder und ich beobachtete, wie er sich wieder mit einer Glasscherbe ritzte. Diesmal am Handgelenk. Ich fuhr meine Antennen aus, um zu prüfen, wie er sich anfühlte.
Das ist eine Arbeit, die sehr viel Selbstvertrauen und Klarheit erfordert. Und mein Gefühl sagte: Alles im Fluss. Alles okay. Jetzt ist es eine Show.
Ich stellte mich vor ihn, sah ihn an und er mich. Stille.
In diesem Moment verließ Francisco das Terrain. Das war das Letzte, was ich von ihm sah: seinen niedlichen Indio-Kopf von hinten, sein blaues Shirt und seine Lackschuhe.
Ich war kurz abgelenkt und in der Zwischenzeit setzte Jonathán wieder seinen „wahnsinnigen” Blick auf. Aber da war keine Trauer mehr zu spüren. Da war etwas anderes. Und dem gab ich Worte: „Du missbrauchst mich!”, fuhr ich ihn scharf an, wendete mich von ihm ab und ging fort.
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er die Scherbe fallen ließ.
Puh! Schwein gehabt.
Am Nachmittag bei der Gartenarbeit schien er wieder normal. Ich hatte etwas Kontakt zu ihm. Ich erklärte ihm, dass ich ihm mit der Trauer helfe. Aber dass ich auch wahrnehme, wenn er uns Betreuer oder mich unter Druck setzt und uns instrumentalisiert. Ich fügte hinzu, dass ich dann nichts mache und mich abwende.
„Profesor traurig?”, fragte er dann in seiner einfachen Art zu sprechen.
„Wenn du gehen willst, dann geh!”, erwiderte ich. „Ich bin dann traurig, aber ich werde dich nicht davon abhalten.”
Er hob die Augenbraue. Dann senkte er den Blick und wurschtelte mit seiner Harke weiter im Laub herum.
Liebe geht seltsame Wege. Sie ist vollkommen anders, als wir uns das vorstellen. In Jonathán ist ganz viel Liebe. Aber sie fließt chaotisch. Vielleicht ist sie blockiert. Vielleicht findet sie auch einfach keinen Ausdruck. Yahaira meint, Jonathán würde gerne offen schwul leben, traut sich das aber nicht. Sie sagt, das sei für ihn sehr schwer.
Gleichermaßen spüre ich meine Liebe zu Jonathán. Ich würde ihn am liebsten den ganzen Tag lang ununterbrochen „fest”-halten. Aber das wäre viel zu viel für ihn. Liebe bedeutet nämlich auch, miteinander zu kommunizieren und sich darüber auszutauschen, wer was ertragen kann. Und dann entsprechend und freizügig / mutig drauf zu reagieren.
Ich würde es folgendermaßen ausdrücken: Liebe ist nicht rosa, sondern ROT. Aber das ist meins.
Weitere Erfahrungen zu meinem spirituellen Reisbericht gebe ich Ihnen gerne in der nächsten Woche. Ich freue mich über jede Rückmeldung und jede Frage.
Herzlichst Ihr Oliver Unger
Unterstütze das Buchprojekt „Rohdiamanten“ mit einer Spende (für Lektorat etc.). Der Erlös aus dem Verkauf des fertigen Buches schafft eine regelmäßige Spendengrundlage für die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua. Mehr Information findest Du auf tiefberuehrt.de/page/hilfe-fuer-nicaragua
Es danken Dir im Voraus Oliver Unger, Projekt-Förderer Bernd V., Lektorin Michélle P., Jonathán, Karla, Ana María, Francisco und Freunde aus Granada, Nicaragua