LACKSCHUHE - sehr unpraktisch für ein Leben in Nicaragua
Ein spiritueller Reisebericht über ehrenamtliche Arbeit mit Straßenkindern in Nicaragua
von Oliver Unger
10. Woche
Tagebucheintrag 7. Juli - Abreise Franciscos
Francisco hat heute das Zentrum auf unbestimmte Zeit verlassen. Er hat erzählt, dass einer seiner Cousins aus Managua umgebracht worden sei. Man habe ihm mit einem Messer direkt ins Herz gestochen. Er, Francisco, würde jetzt zu seiner Familie zurückgehen und ihr Beistand leisten.
So lautete seine Aussage. Fila kommentierte das heute Nachmittag folgendermaßen: „Diese Geschichte erzählen sie immer.”
Man weiß es nicht. Es ist auch egal. Francisco ist weg und alle sind furchtbar traurig. Hatten wir doch endlich gerade den nächsten Schritt für ihn geplant ... Ich habe erst gar nicht gecheckt, was das genau heißt, dass er jetzt nach Managua geht. Das ist ja nicht so weit, dachte ich, und er wird ja in ein paar Tagen zurück sein. Ana Maria geht auch manchmal nach Managua und kommt dann wieder. Aber als Francisco zu mir kam und mir sagte, er werde oft an mich denken und an meine Therapie-Runde, da machte es klick-klick und der Groschen fiel. Ich fragte ihn, wann er wiederkäme, und er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht gar nicht”, sagte er daraufhin.
Ich bin dann erst einmal zu Bruder Emmanuel ins Büro gegangen, weil er und Yahaira dort waren. Sie suchten wie wild in den Kleiderkisten nach Kleidung, die sie Francisco mitgeben konnten. Er hat ein neues Oberteil, eine neue Hose, einen Gürtel und Schuhe (LACKSCHUHE - sehr unpraktisch für ein Leben in Nicaragua!) bekommen. Und während die beiden in den Kleiderkisten wühlten, habe ich mir ein Tässchen geweint. Was soll ich denn jetzt noch hier?, habe ich mich gefragt.
„Traurig?”, fragte Yahaira.
Ich nickte.
„Wir sind alle traurig”, fügte sie hinzu.
Ich war wie gelähmt. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich stand da herum mit meinen feuchten Augen und starrte einfach ins Leere.
Nach ein paar Minuten bin ich dann in Yahairas und mein Besprechungszimmer gegangen und habe mich an den Tisch gesetzt. Jonatháns Rufe nach mir holten mich aus diesem Zombie-Zustand.
In dem Büro gibt es statt einem Fenster eine Tür nach draußen. Sie stand offen. Allerdings muss man ein Gitter öffnen, um hinausgehen zu können. Dieses war verschlossen. Aber ich sah, dass Jonathán an dem Gitter stand und mich anblickte. Er hatte auch feuchte Augen, und ich dachte, es sei vielleicht wegen Franciscos Abreise. Ich ging zu ihm und fragte, wie es ihm gehe. Er zeigte mir, dass er in jeder Hand eine Glasscherbe hielt. Dann ballte er die Fäuste.
Ich erschrak und war zwischen mehreren Gefühlen hin und her gerissen: Trauer, Zombiezustand, Schreck, Angst. Ich erinnerte mich an die Situation vor ein paar Tagen und bat ihn, mir in die Augen zu sehen. Er tat es, aber nur für eine Sekunde, dann wendete er seinen Blick ab. Ich ging zu Yahaira und sagte ihr, was er tat. Gleichzeitig kam Francisco in das Zimmer. Ich sagte ihm, dass Jonathán sich gerade selbst verletze und dass ich deswegen raus müsse.
Jonathán stellte sich an das Gitter und nahm Kontakt auf. Yahaira war schnell draußen und ich auch. Jonathán war nicht zu überzeugen, die Scherben loszulassen. Er hielt die Fäuste weiterhin geballt. „Schau mir in die Augen” half diesmal nicht. Er wendete sich ab und drückte stattdessen die Hände noch fester zusammen. Yahaira redete auf ihn ein und ich bat Gott, mir eine Idee einzugeben, was ich tun sollte.
Ich nahm Jonathán in den Arm und drückte ihn an mich. Er ballte die Fäuste und ich hielt ihn einfach fest und streichelte ihm über den Rücken.
Ich spürte seine immense Trauer und konnte das nicht lange aushalten. Schneller, als mir lieb war, musste ich ihn loslassen und weggehen. Yahaira nickte mir zu und blieb bei ihm. Ich ging auf die andere Seite des Hauses und musste mich erst einmal beruhigen. Jonathán und Yahaira kamen relativ schnell nach. Jonathán ging in das Haus und legte sich unter einen der Tische. Ich blieb noch draußen, weil ich dachte, es wäre jetzt alles okay. Ich brauchte die Zeit, um „runterzukommen”.
Das hat mir diesmal noch mehr Angst gemacht als letztes Mal. Yahaira sagte mir, Jonathán habe am Vortag vier Marihuana-Tüten geraucht, und wenn er das mache, dann sei er manchmal so drauf.
Ich ging daraufhin ebenfalls ins Haus. Ich setzte mich zu Francisco, der an einem anderen Tisch saß. Ich wollte noch ein bisschen mit ihm sein, seine Energie genießen, seine Frische. Und ich wollte für mich in Stille von ihm Abschied nehmen. Ich habe ihm gesagt, er könne jederzeit zurückkommen, wenn etwas schiefläuft. Ich fragte ihn, ob er sich eine Arbeit suchen würde. Er sagte: „Sehr wahrscheinlich ja, um meine Familie zu unterstützen. In Managua ist das auch einfacher als hier.”
Francisco hat laut Yahaira keine Gewalt in der Familie erlebt. Die Chancen, dass er in Managua gut unterkommt und vielleicht auch dort bleibt, sind ganz gut.
So ist das mit der Liebe: Man teilt sie, so lange es die Zeit dafür ist. Und dann muss man sich gegenseitig frei lassen. Dann fließt die Liebe weiter. Woanders hin.
Und manchmal tut das auch weh.
Wir schauten hinüber zu Jonathán. „Was meinst du, ist er traurig, weil du weggehst?”, fragte ich Francisco.
„Nein. Das ist was anderes.” Francisco stand auf und ich ging daraufhin zu Jonathán. Er lag unter dem Tisch auf dem Rücken und blickte ins Leere. Seine Arme waren über dem Kopf verschränkt.
Weitere Erfahrungen zu meinem spirituellen Reisbericht gebe ich Ihnen gerne in der nächsten Woche. Ich freue mich über jede Rückmeldung und jede Frage.
Herzlichst Ihr Oliver Unger
Unterstütze das Buchprojekt „Rohdiamanten“ mit einer Spende (für Lektorat etc.). Der Erlös aus dem Verkauf des fertigen Buches schafft eine regelmäßige Spendengrundlage für die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua. Mehr Information findest Du auf tiefberuehrt.de/page/hilfe-fuer-nicaragua
Es danken Dir im Voraus Oliver Unger, Projekt-Förderer Bernd V., Lektorin Michélle P., Jonathán, Karla, Ana María, Francisco und Freunde aus Granada, Nicaragua