Die massiven Grenzverletzungen, die die Jugendlichen erlitten hatten.
Ein spiritueller Reisebericht über ehrenamtliche Arbeit mit Straßenkindern in Nicaragua.
von Oliver Unger
7. Woche.
Fast wie von selbst habe ich durch die Berührungsarbeit ein großes gesellschaftliches Hindernis überwunden. Vielleicht war es das Glück des Anfängers oder der „Dummen“ … Berührung wird in Nicaragua (wie wahrscheinlich in vielen anderen Ländern auch) sehr schnell mit Sexualität assoziiert. Konkret für die Straßenkinder bedeutete es, wenn sie jemand berührt, dass er sie zur Prostitution/zum Sex bewegen möchte.
Kann es eine heilsame Erfahrung gewesen sein, mal nicht im Sinne einer solchen „Aufforderung“ berührt worden zu sein?
Durch die massiven Grenzverletzungen, die die Jugendlichen erlitten hatten, musste ich mich immer wieder gut erden, ressourcieren und zu mir selbst finden. Erschwerend kamen die Auswirkungen hinzu, die der Drogenkonsum (vor allem Lösungsmittel) auf die Jugendlichen hatte. Natürlich spielten sie, wie alle Süchtigen, ihre psychologischen Spielchen. Sie konnten lügen, bis sich die Balken bogen und die Betreuer manipulieren.
Die Herausforderung war, gleichzeitig Grenzen zu achten und klar zu setzen, damit man als Betreuer nicht auf diese Spielchen hereinfällt, als auch eine Atmosphäre herzustellen, in der ihre gebeutelten Energiesysteme eine Möglichkeit zum Entladen und Präsentwerden vorfinden konnten.
Diese Herausforderung empfand ich als die Schwierigste: Wie schaffe ich klare Strukturen und bin gleichzeitig in meinem Verhalten so offen und einladend, dass sich das System des Jugendlichen entladen kann?
Da musste ich erst hineinwachsen, denn ich bemerkte, dass durch diese zwei Anforderungen sehr gefordert war, auch ehrlich zu mir selbst zu sein. Zum Beispiel anzuerkennen, wo meine fachlichen und persönlichen Grenzen sind. Außerdem war wichtig, anzuerkennen, dass ich nicht „fehlerfrei und perfekt“ bin. Diese Erfahrungen waren sehr Ego-zerstörend, aber gleichzeitig heilend und herzöffnend.
Grenzen setzen, achten, vermitteln und gleichzeitig Raum für Entladung und Integration schaffen geht meiner Erfahrung nach nur, indem man anerkennt, was ist. Ich ließ es also mehr und mehr sein, die Jungs und Mädchen anders haben zu wollen, als sie waren. Weniger tun, mehr „zulassen“ war ein Zaubermittel.
Gelassenheit und Besinnung auf meine eigenen Bedürfnisse machten mich zu einem Spiegel, in dem sich Betreuer und Jugendliche (vielleicht) sehen konnten.
Und ganz oft musste ich mir eingestehen: Ich kann das hier grade nicht! Ebenso oft sah ich meine Präsenz schwinden und sich in einem Meer von Angst auflösen, z.B. als sich ein Junge mit Glasscherben vor meinen Augen selbst verletzte.
Weitere Erfahrungen zu meinem spirituellen Reisbericht gebe ich Ihnen gerne in der nächsten Woche. Ich freue mich über jede Rückmeldung und jede Frage.
Herzlichst Ihr Oliver Unger
Unterstütze das Buchprojekt „Rohdiamanten“ mit einer Spende (für Lektorat etc.). Der Erlös aus dem Verkauf des fertigen Buches schafft eine regelmäßige Spendengrundlage für die Straßenkinder in der Stadt Granada, Nicaragua. Mehr Information findest Du auf tiefberuehrt.de/page/hilfe-fuer-nicaragua
Es danken Dir im Voraus Oliver Unger, Projekt-Förderer Bernd V., Lektorin Michélle P., Jonathán, Karla, Ana María, Francisco und Freunde aus Granada, Nicaragua