Der ideale Organismus – die Primärregulation (nach Tief berührt)
von Oliver Unger
„Kann es einen absolut gesunden Organismus geben, der jeden Stress, jede Belastung gut verkraften kann, ohne dass die Person davon beeinträchtigt wird?“
von Oliver Unger
Ja und nein. Unser System hat alle Fähigkeiten zur Verfügung die es braucht. Und dennoch treten Krankheiten auf, sind Menschen stark überfordert und sterben eines unnatürlichen Todes. Wie kann das sein? Die These lautet: Krankheit und Heilung sind ein und dasselbe.
Zu beobachten ist, dass es verschiedene Stationen auf dem Weg zur Gesundung gibt. Im Folgenden beschreibe ich fünf Stufen der Selbstregulation des Körpers. Sie sind Türen, die der Körper sich sucht, um die übermäßige Spannung, den Stress, der aus belastenden Erlebnissen herrührt, abzubauen. Die Regulationsmechanismen sind anhand von körperlichen Reaktionen zu erkennen.
Diese habe ich „hierarchisch“ aufgebaut und benannt, so dass leichter zu verstehen ist, was ich meine. Damit möchte ich aber keine Wertung ausdrücken, sondern letztlich ermöglichen, dass du erkennst, dass jede Regulationsstufe ihre eigene Berechtigung und ihren eigenen Wert hat. Der Idealfall, so wie man ihn sich ausdenken könnte, wäre, wenn der Organismus eine Spannung, ein Ereignis, eine Stresssituation erfährt, diese aufkommende Belastung eine Weile durch sich durch laufen ließe, so lange sie dauert und danach vergessen würde.
Dieses Vergessen würde auf drei Ebenen geschehen: Im Zellgedächtnis würde die Stresssituation nur kurz verweilen und danach gelöscht. Im Nervensystem würde es eine kurzzeitige Anspannung geben, der Tonus würde sich erhöhen, und dann würde er sich wieder abbauen. Und im Bewusstsein, im Verstandesteil des Gehirns, würde man das Ereignis einfach ad acta legen. Es ist geschehen und vorbei.
Diese Art der Selbstregulation nenne ich „Primäre Regulation“. Stress kommt auf und der Körper lässt ihn einfach durchlaufen. Man spürt alle physiologischen Reaktionen, die dazu gehören. Das Adrenalin erhöht den Puls, du spürst vielleicht Angst, zitterst, hast vielleicht Schweißausbrüche, was auch immer deine typischen Reaktionen sind. Doch sie gehen vorbei und hinterlassen keine Spur. Du erlebst den Stress als unspektakulär.
In anderen Situationen wärst du in der Lage, vielleicht zu kämpfen oder zu fliehen. Kurz gesagt: der Geist und der Körper sind in der Lage, zu tun, was die Situation erfordert und du kannst danach loslassen und vergessen.
In vielen Situationen ist dies für dich sogar der Fall. Vielleicht kannst du gut Autofahren und tust es gerne. Sobald du dich auf die Autobahn begibst, ein bisschen stärker auf das Gaspedal trittst, treten die oben beschriebenen Mechanismen des Körpers auf. Wenn dich jemand fragt, ob du keine Angst gehabt hast, weil du so schnell gefahren bist, antwortest du: Nein, ich fahre gerne und es hat Spaß gemacht.
Doch sobald du eine Prüfung ablegen musst, vielleicht in deiner Ausbildung – oder du dich auch nur an die letzte Prüfung erinnerst, die man von dir verlangte, bricht dir auf eine Weise der Schweiß aus, wie es für dich nicht alltäglich ist. Es kommt ein Gefühl von starker Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit auf. Du wirst sogar ein bisschen wütend, wenn du darüber nachdenkst, wie diese Prüfung war.
Hier erlebst du, wie deine Primäre Regulation nicht mehr funktioniert. Du kommst in einen Erlebnis-Raum (ob gerade real erfahren oder als Erinnerung), den dein Körper nicht so gut regulieren kann. Der Stress-Pegel ist offenbar zu hoch. Und dein Körper, deine Gedanken sowie deine Seele fühlen sich dem nicht gewachsen.
Der Körper versucht eine andere Art der Regulation. Ich nenne diese „Sekundäre Regulation“. In unserem Beispiel würdest du nach der Prüfungssituation blass werden, zittern. Vielleicht bekommst du noch einen spontanen Durchfall. Das geht zwar vorbei, doch es ist ein wenig leidvoller.
Die Sekundärregulation ist nah an der Primärregulation dran. Jedoch mit den Augen eines Außenstehenden ist sie deutlicher zu erkennen. Sie hinterlässt mehr Eindruck, mehr Erinnerung. Für das Nervensystem bedeutet, sich „nur“ sekundär regulieren zu können, dass ein gewisses Maß an Stress im System verbleibt. Wie auch immer dieser sich dann einen Unterschlupf sucht, ist sehr individuell, doch er kumuliert (sammelt sich). Das macht die Sekundärregulation auf eine bestimmte Weise „ungesünder“.
Etwas wird im System behalten, nicht losgelassen. Es gibt keinen Neustart, keinen „Reset“, so wie in der Primärregulation. Die Falle an der Sekundärregulation ist, dass wir uns sehr daran gewöhnt haben. Wir leben seit ewigen Zeiten damit, dass sich Stress in uns ansammelt, weil wir ihn nicht primärregulieren (können). Dies hat zur Folge, dass wir uns darüber anfangs auch keine Gedanken machen.
Bezug nehmend auf das Beispiel mit dem Autofahren auf der Autobahn würdest du dir niemals „Hilfe“ holen. Du müsstest es ja auch nicht. Du empfindest die hohe Geschwindigkeit ja eher als Kick und nicht als „Belastung“. Hingegen für die Folgen der „Prüfungsangst“ wäre es angemessen, dem Körper zu zeigen, wie er sich primär regulieren kann. Eine Art Hilfestellung ist möglich und nötig. Doch ganz lange Zeit würdest du niemanden danach fragen. Nur wegen ein bisschen zuviel Zittern und Aggressionen direkt jemanden aufsuchen, der einem hilft?
Die meisten Menschen sind nur in sehr wenigen Bereichen ihres Lebens „primärreguliert“. Vielmehr sind wir sekundärreguliert. Dies bedeutet nicht nur, dass wir mehr Stress empfinden als wir eigentlich müssten, sondern auch, dass wir allmählich beginnen, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir diesen Stress loswerden können.
Zunehmend geraten die sekundären Regulationsmechanismen in die Aufmerksamkeit der Heilpraktiker und mancher Ärzte. Da sie sichtbar sind, haben wir uns darauf eingerichtet, hier mit unseren Therapie-Methoden anzusetzen. Manche Verfahren rufen sozusagen die Sekundärregulation künstlich hervor, um dem Mechanismus Schwung zu verleihen, in der Hoffnung, dass eine Primärregulation wieder einsetzen kann.
Hier wäre die Homöopathie zu nennen, die auch Entschlackung, Entschleimung und andere „Erstverschlimmerungen“ (Heilreaktionen) auslöst. Andere Methoden verhelfen dem Körper, in eine Primärregulation zu kommen, wie z.B. die Tief berührt Methode (www.tiefberuehrt.de) oder Somatic Experiencing (www.somatic-experiencing.de). Der Körper wird eingeladen, zu zittern, zu gähnen, zu niesen, seine Emotionen fließen zu lassen und dadurch öffnet sich das Tor zur Primären Regulation.
Wieder andere Provozieren den Körper und den Geist, so dass er aufgrund der hohen Spannung in die Not kommt, sich zu regulieren, z.B. durch Provokative Psychotherapien oder Familienstellen. Meist entsteht als erste Reaktion hierauf eine Sekundärregulation (Angst, Wut, Trauer, Zittern etc.), mit der man dann arbeiten kann. Zusammengefasst gehören zur Sekundärregulation alle Symptome, die eine Selbstreinigung des Körpers mit sich bringen, z.B. Zittern, Gähnen, Darmwinde, Aufstoßen, Erbrechen, Erkältungen und andere Schleimabsonderungen.
Sobald du deine Sekundärregulation erkennst, zulässt, hat dein Körper die Chance, sich wieder primär zu regulieren. Deswegen achte darauf, bevor sich dein Stress zu stark angesammelt und verdichtet hat, vielleicht mal jemanden zu fragen: „Kann man da nicht was für die Regulation tun?“
Insgesamt ist die Sekundärregulation als „erreichbar“, „anfassbar“, „bearbeitbar“ zu betrachten. Weigert man sich, erkennt seine Mechanismen nicht und vertraut seinem Körper weiterhin nicht, kumuliert der Stress im System. Das wirkt genau so als würde durch die Abflussrohre zu viel dicke, zähflüssige Masse durchfließen. Irgendwann sind sie verstopft und es fließt kaum noch etwas ab. Dann greift der Körper zur Tertiären Regulation.
Mehr dazu im Teil 9 .
Ihr Oliver Unger