Wie vermeide ich am besten meinen Schmerz?
von Oliver Unger -
Der biblische Ursprung des Leids
Dies ist keine christliche Abhandlung. Trotzdem unternehmen wir zunächst einen kleinen Ausflug in die Bibel, da dort möglicherweise der Grundstein für die Konditionierung gelegt wurde, über die ich in diesem Artikel schreibe.
An verschiedenen Stellen der Bibel ist vom Leid die Rede. Es gibt leidende Figuren, wie Hiob, Elia, Jeremia. Ja sogar ganze Völker sind vom Elend geplagt, wie z.B. die Ägypter. Die auferlegte Bürde erscheint in Form von Kriegen, Katastrophen oder Seuchen. Nach der Lektüre ist einem klar: Leid ist offenbar vonnöten, um die so genannte Erlösung zu erlangen. Der Beweis wird angetreten durch die Thesen, mit denen das Leid begründet wird: Leid als Folge von Schuld, Leid als erzieherische Maßnahme Gottes, Leid als Prüfung, Leid als Teil eines göttlichen Plans und vieles mehr.
Im Mittelalter wurde das Leid dadurch sogar zu einer Art Geschäft verwandelt. Die Kirche sagte zu ihren Jüngern: Du leidest ein bisschen und danach kann ich dich erlösen. Klingt doch erschwinglich, oder? Was sind schon ein paar Jahre Leid für eine Erlösung, die eine Ewigkeit andauert? Der Nachteil ist nur, dass wir von dieser Erlösung nichts mehr spüren können, sobald wir im Suppentopf der so genannten Ewigkeit umher schwimmen. Da hast du jahrelang brav vor dich hin gelitten, stirbst und … bist weg vom Fenster! Es gibt keinen Körper mehr, der sich über die gekaufte Erlösung freuen könnte. Du stellst fest (sofern du noch kannst): Es war ein dummes Geschäft.
So ging es in der Vergangenheit unzähligen Menschen. Doch ganz allmählich schien sich ein Fortschritt anzubahnen. Die Menschen erkannten, dass Leid möglicherweise doch nicht nötig ist. Sie entwickelten neue Konzepte, mit denen sie das Leid verringern konnten. Ich selbst bin zwar ein Kind der 70er, daher kann meine These nur auf Vermutungen gründen. Wahrscheinlich war es die Zeit der Industrialisierung bis zum zweiten Weltkrieg, in der die lang ersehnte Erlösung aus dem Leid stattgefunden hat. In jenen Jahren begann man, sich um Fortschritt, Industrie und Wirtschaft zu kümmern. Es wurden neue Technologien entwickelt. Es gab neue Medizin und der ewig währende Fluch der kirchlichen Alleinherrschaft über das Leid hatte ein Ende. Der Alltag wurde durch Maschinen, allerlei Komfort und Luxus erleichtert und bereichert. Im Rückblick muss es fast gewirkt haben, als sei das Leid wie eine Feder hinfortgeweht worden – sehr zum Leidwesen der Herren Bischöfe natürlich ... Schließlich gab es nur noch hier und da eine Krankheit in der Familie, die mit dem neu entdeckten Penicillin nun endlich leicht zu bekämpfen war. Zwischendurch gab es die eine oder andere Verarmung und ein bisschen Judenverfolgung, die man ja auch fast übersehen hätte. Was ist das schon gegen Hexenverbrennung und Folter, die noch wenige Dekaden zuvor stattgefunden haben? Ein neues gesellschaftliches (oder sollte ich sagen „industrielles“?) ethisches Ziel manifestierte sich: Arbeitsfähig bleiben und Wohlstand erzeugen. Dazu musste man – mal ganz ehrlich – bis heute eine gewisse träumerische Ignoranz aufbringen. Ich würde auch sagen, man musste sich gewissermaßen schon wieder ein bisschen verkaufen. Nur dass einem das Leid nicht mehr von der Kirche aufgebrummt wurde, sondern vom Geldbeutel.
Eins ist sicherlich nicht wegzudiskutieren (oder wegzuleiten): Zu viel Bewusstheit hätte dem industriellen Wohlstandsdenken geschadet. Schneller als ein Schornstein gebaut worden wäre, hätte man gemerkt, dass Leistung, Erfolg und Geld allein nicht glücklich machen. Man wollte schneller, besser und präziser sein, als das Leben selbst. Und man beschleunigte und verstärkte, was sich vielleicht von allein, ohne menschliches Zutun, gesünder und beständiger entwickelt hätte. Eine Seifenblase, die alsbald platzt, sobald man sich in Stille hinsetzt und seinen Gedanken, Sehnsüchten und Emotionen Raum gibt.
Herzlichst Oliver Unger
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