Wie komme ich ausgerechnet im goldenen Oktober dazu, eine Pflanze vorzustellen, die – symbolisch mit Nebel, Sumpf, Nixen und Feen verbunden – eher an einen nebligen Novembertag denken lässt? Der keltische Baumkalender gibt allerdings den dritten Monat des Jahres als Erlenmonat an.
Erlkönigin
Die Schwarzerle Alnus glutinosa
„Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlkönig mit Kron und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif …“
Meine eigenen Erfahrungen mit Erlen beruhen vor allem auf Begegnungen im Sommer. An einen kleinen Weiher im Wald, unterhalb der Weilquelle, gehe ich an heißen Tagen gerne zum Baden. Um diesen Teich herum und auf einer Insel mittendrin stehen Erlen, die im Herbst ihre Blätter ins Wasser werfen. Ich wundere mich immer, dass nach dem Baden dort, ganz im Gegensatz zu anderem Wasser, die Haut wunderbar glatt und geschmeidig wird.
Einer Freundin, die ich dort am Weiher traf, und die über eine kleine eiternde Wunde klagte, gab ich den Rat, eine Kompresse aus den zerstampften Erlenblättern aufzulegen. Am nächsten Tag war die Entzündung verschwunden. Da erinnerte ich mich an die Worte meines Schwiegervaters, der mir vor langer Zeit erzählte, dass Schwarzerlenblätter in Ostpreußen als eine Art Zugsalbe gegen schwer heilende Wunden verwendet wurden. Dazu wurden die Blätter zerstampft oder gekaut und in einer Art Kräuterumschlag auf die Wunde aufgebracht. In der Tat lässt sich nachweisen, dass die Blätter der Erle gewebestärkende Substanzen enthalten. Die Gerbstoffe in Blättern und Rinde wirken entzündungshemmend. Ein Absud von der Rinde dient zur Bekämpfung von Fieber. Für eine entzündungshemmende Mundspülung kocht man fünf Minuten zwei Teelöffel der im Mai gesammelten Blätter in einer Tasse Wasser. Gegen Halsentzündungen wirkt die im Herbst gesammelte, junge, getrocknete Rinde, für die man einen Teelöffel auf eine Tasse Wasser benötigt: erhitzen und fünf Minuten kochen lassen, abseihen und bei Bedarf gurgeln. Rindenaufgüsse gelten im Volksglauben auch als gutes Mittel gegen Liebeszauber. Frische Rinde erzeugt allerdings Erbrechen. All dies erinnert an den australischen Teebaum, dessen Öl als Desinfektionsmittel bekannt ist. Die Erle ist der Teebaum der alten Welt.
Anderswelt-Baum aus dem Sumpf
Da sich der Stamm an der Schnittfläche orangerot färbt, sagte man früher, die Erle blute aus Schmerz. In Jütland baten die Baumfäller daher mit einem tradierten Spruch den Baum vor dem Fällen um Erlaubnis. Der Standort im Bruchwald machte die Erle gefährlich: Wanderer fürchteten die „Irle“, das „Erlenweib“, von dem sie in den Sumpf gezogen werden konnten. Der „Erlkönig“ in Goethes berühmtem Gedicht hat allerdings nur mittelbar mit der Erle zu tun: Die ursprünglich dänische Ballade spricht vom „Eller-“ oder „Elverkonge“, was „Elfenkönig“ bedeutet; dieser geht auf den altenglischen Got Bran, den „König der Erlen“, zurück, eine patriarchale Form der früheren keltischen Göttin Cerridwen. Offenbar vermittelte die Erle die Anwesenheit einer nicht-menschlichen Macht. Bei der Rechtssprechung wurde über jemandem der „Stab gebrochen“. Dabei handelte es sich um Erlenstäbe, die über dem Kopf eines ausgestoßenen Menschen zerbrochen und in alle Richtungen fortgeworfen wurden. Auch um griechische Orakelstätten wuchsen häufig Erlenhaine. Doch der Baum hat nicht nur magische und mythische Eigenschaften: Möbel aus Erlenholz sollen Wanzen, und Unterlagen aus frischen Erlenästen Mäuse vom Getreide fernhalten. Das Holz ist beliebt in der Möbelschreinerei als Furnierholz, für Drechsler und Schnitzer. Es ist fest, weich und reißt kaum ein. Da es unter Wasser sehr dauerhaft ist und nicht fault, wird es auch im Schiffsbau verwendet. Venedig ist auf Erlenholzpfählen erbaut worden, ebenso seine berühmten Gondeln. Die gerbstoffreichen Blütenstände der Erle wurden früher zusammen mit der Rinde zum Ledergerben und zum Wolle färben genutzt. Aus den Zapfen machte man Tinte. Die jungen Zweige mit den klebrigen Blättern nutzte man als natürliche Fliegenfänger.
Ein ökologischer Schatz
In Mitteleuropa gibt es drei Erlenarten: die Grauerle (Alnus incana) kommt häufig vor und wird als kleiner bis mittelgroßer Baum 15 Meter hoch. Die Grünerle (Alnus viridis) bildet bis drei Meter hohe Sträucher oder maximal fünf Meter hohe Bäume. Sie wird als Erosionsschutz und Vorwaldbaumart vor allem in den Alpen angepflanzt. 500 Bäume können einen Hektar Hochgebirgshang lawinensicher machen und ersparen eine mechanische Sicherung in Millionenhöhe. Außerdem verbessern Erlen die Waldböden, da sie in den Wurzeln symbiotische Bakterien halten, die Stickstoff aus der Luft binden können. Die Schwarzerle (Alnus glutinosa) ist ein Charakterbaum der Auwälder. Sie kann bis zu etwa 120 Jahre alt und 30 Meter hoch werden. Charakteristisch sind ihre weiten, locker gestellten Äste und eine abgerundete Baumkrone. Die Wurzeln gehen sowohl in die Tiefe als auch in die Breite, dadurch ist sie sehr sturmfest. Heute wird die Bedeutung der Schwarzerle für die Uferbefestigung sowie als Lebensraum für zahlreiche Tiere wieder erkannt – wo Erlen das Ufer säumen, gibt es wesentlich mehr Fische. Die Lebenskünstlerin Schwarzerle wird mit zeitweiligem Hochwasser gut fertig, aber sie verträgt keine ständige Überflutung. Sie ist ein Baum, der viele Qualitäten vereinigt: Primär schöpft sie ihre Kraft natürlich aus der Wandlungsphase Holz mit ihrer aufbauenden, heilenden Qualität, die in einer Ausprägung vorhanden ist, so dass sie sowohl ein Übermaß an Wasser als auch ein Übermaß an Feuer (Entzündungen) bewältigen kann. Für wen „Integration von Gegensätzen“ gerade ein wichtiges Lebensthema ist, findet in der Erlkönigin eine starke Unterstützerin.