NAN YAR? („Wer bin ich?“)
von advaitaMedia -
NAN YAR? („Wer bin ich?“) Leben und Lehre des Ramana Maharshi.
1902 reiste der Philosoph Sri Pillai zum Berg Arunachala, um Ramana Maharshi eine Reihe von Fragen zu stellen. Der junge Ramana Maharshi, er war erst 23 Jahre alt, verweilte zu diesem Zeitpunkt in tiefem Schweigen in der Höhle von Virupaksha. Sri Pillai beschloß, Bhagwan, wie ihn seine Anhänger liebevoll nannten, seine brennenden Fragen schriftlich vorzulegen. Bhagwan beantwortete sie alle und sie wurden 1923 erstmals auf Tamil, der Muttersprache des Maharshi, zusammen mit einigen Gedichten, die Sri Pillai zu dessen Ehren verfaßt hatte, unter dem Titel „Ramana Maharshi?“ („Wer bin ich?“) veröffentlicht.
Diese scheinbar kleine Schrift beinhaltet die grundlegende Essenz dessen, was der Maharshi später, als er sein Schweigen aufgegeben hatte, in unzähligen an ihn gerichtete Fragen beantwortet hat. „Nan Yar?“ ist Ramana Maharshis Vermächtnis an die Menschheit, ein Zeugnis bedingungsloser Liebe und unerschöpflicher Weisheit.
In Wahrheit existiert allein das Selbst. Die Welt, die individuelle Seele und Gott sind Erscheinungen darin wie Silber im Perlmutt; diese drei erscheinen zur gleichen Zeit. Das Selbst ist das, in dem es überhaupt keinen „Ich“-Gedanken gibt. Das wird „Stille“ genannt. Das Selbst selbst ist die Welt; das Selbst selbst ist „Ich“; das Selbst selbst ist Gott. Alles ist Shiva, das Selbst. (*1)
Zu dieser Erkenntnis erwachte Venkataraman, so der Geburtsname des Maharshi, durch einen Gnadenakt im Alter von siebzehn Jahren. Nichts hatte dieses Ereignis, das sein Leben von Grund auf ändern sollte, angekündigt: keine wundersamen Zeichen während seiner Geburt, keine Besonderheiten, die der Knabe bereits in seiner Kindheit manifestiert hätte, im Gegenteil. Venkataraman wurde am 29. Dezember 1879 in Tiruchili, einem Dorf in der Nähe von Madurai, geboren.
Er war das zweite von insgesamt vier Kindern und wuchs als ganz gewöhnlicher Junge in einer mittelständischen brahmanischen Familie auf. Sein Vater hatte sich vom einfachen Schreiber zum erfolgreichen Rechtsbeistand emporgearbeitet, so daß die Familie Ansehen und Wohlstand genoß. Das änderte sich schlagartig, als der Vater unerwartet starb. Venkataraman war gerade zwölf Jahre alt und wurde mit seinem älteren Bruder nach Madurai zu einem Onkel seiner Mutter geschickt, der sich der weiteren Erziehung der beiden Jungen annahm. Venkataraman interessierte sich nur mäßig für sein Schulstudium, besaß aber ein außergewöhnliches Gedächtnis, so daß er als recht guter Schüler galt.
Wie die meisten Knaben seines Alters verbrachte er seine Zeit lieber draußen und spielte mit seinen Freunden leidenschaftlich gerne Fußball. Das einzig Ungewöhnliche an ihm, war sein abnormes Schlafverhalten. Er selbst erzählte Jahre später eine Begebenheit aus seiner Kindheit, als ihn ein Verwandter im Ashram von Tiruvanamalai besuchte.
Du erinnerst mich an etwas, das in Dingidul passierte, als ich noch ein Knabe war. Dein Onkel, Periappa Seshvayyar, lebte damals dort. Wir hatten uns zu irgendeinem festlichen Anlaß in seinem Haus versammelt. Abends gingen alle in den Tempel, nur ich wurde alleine Zuhause gelassen. Ich saß im vorderen Raum und las, aber nach einer Weile wurde ich müde. Ich verschloß Türen und Fenster und ging zu Bett.
Als die anderen vom Tempel zurückkehrten, konnten mich weder laute Rufe noch heftiges Pochen an die Haustüre wecken. Schließlich gelang es den Ausgeschlossenen, mit einem beim Nachbarn deponierten Schlüssel die Türe zu öffnen und sie versuchten mich wachzurütteln. Alle Jungen, auch dein Onkel, schlugen mich nach Herzenslaune jedoch ohne Erfolg. Ich erfuhr es erst, als man mir am nächsten Tag davon erzählte. (*2)
Ein anderes Ereignis, dessen Bedeutung Bhagwan erst später erkannte, war die Begegnung mit dem Namen des Berges Arunachala. Als einmal ein älterer Verwandter bei seiner Familie zu Besuch war, fragte ihn Venkataraman, woher er denn käme. „Vom Arunachala“, antwortete ihm dieser. Venkataraman wußte zwar, daß dieser Ort ein besonderes hinduistisches Heiligtum war, dem Gott Shiva geweiht, fühlte jedoch plötzlich in sich eine tiefe und unerklärliche Resonanz.
Dasselbe wiederholte sich einige Zeit später, als er in einem Buch die Lebensgeschichte der 63 tamilischen Heiligen las. Überwältigt von soviel Liebe und unerschütterlichem Glauben, verweilte Venkataraman für kurze Zeit in ekstatischem Erstaunen. Das endgültige Erwachen zur wahren Natur seiner selbst geschah jedoch kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag. Von einer plötzlichen und heftigen Todesangst befallen, legte er sich auf den Boden und ahmte die Todesstarre nach. Währenddessen fragte er sich, wer es denn nun sei, der da stürbe.
„Nun“, sagte ich zu mir selbst, „dieser Körper ist tot. Er wird steif zum Einäscherungsort gebracht, dort verbrannt und zu Asche reduziert werden. Aber mit dem Tod dieses Körpers, bin ich dann tot? Bin ich der Körper? Es ist still und bewegungslos und doch nehme ich die volle Kraft meiner Persönlichkeit und selbst die Stimme dieses „Ich“ getrennt in mir wahr. So bin ich also Geist, der den Körper transzendiert. Der Körper stirbt, aber der Geist, der ihn transzendiert, kann vom Tod nicht berührt werden. Das bedeutet, ich bin der todlose Geist. (*3)
Von diesem Augenblick an interessierte sich Venkataraman nicht mehr für weltliche Belange. Er verließ bald darauf seine Familie, eine schriftliche Nachricht hinterlassend, sie mögen sich seinetwegen keine Sorgen machen. Teilweise zu Fuß, teilweise mit dem Zug reiste er nach Tiruvanamalai zum Heiligen Berg Arunachala, den er in der Mittagssonne des ersten September 1896 zum ersten Mal erblickte.
Überwältigt von seinem majestätischen Anblick erkannte Venkataraman, daß er auch in der Welt der Erscheinungen Zuhause angekommen war. Bis an sein Lebensende sollte er diesen Ort nicht mehr verlassen.
O Arunachala! In Dir ist das Bild des Universums erschaffen, in Dir verweilt es, in Dir löst es sich auf. In diesem Rätsel ruht das Wunder der Wahrheit. Du bist das Innerste Selbst welches in den Herzen als „Ich“ tanzt. „Herz“ ist Dein Name, O Herr! (*4)
Die nächsten Jahre verbrachte Venkataraman schweigend in sich Selbst versunken. Erste Anhänger sammelten sich um ihn und versorgten seinen Körper mit Nahrung und Pflege, da er selbst ihn nicht mehr wahrzunehmen schien. Weder die angriffslustigen Jugendlichen, die mit Steinen nach ihm warfen, noch das Ungeziefer in den feuchten Kellergewölben unter den Tempelräumen, wohin er sich zurückgezogen hatte, konnten ihn aus diesem tiefen Samadhi holen. Die Welt der Erscheinungen mit ihrem ewigen auf und ab berührte ihn nicht mehr.
Obwohl der junge Sadhu kein Wort sprach, verbreitete sich bald die Nachricht, am Arunachala sei ein Heiliger angekommen, der allein durch seine friedvolle Aura wirke. Gelehrte Philosophen, Beamte der englischen Kolonialregierung, einfache Menschen aus der Umgebung des Heiligen Berges, sie alle kamen, um in der Gegenwart des „Großen Weisen“ zu verweilen und an dessen inneren Frieden teilzuhaben.
Die Jahre vergingen, der Maharshi kehrte allmählich in die äußere Normalität des alltäglichen Lebens zurück. Er begann zu sprechen und Fragen, die ihm gestellt wurden, zu beantworten.
Solange ein Mensch sich nicht auf die Suche nach seinem wahren Selbst macht, wird er sein Leben lang von Zweifel und Unsicherheit verfolgt werden. Die größten Könige und Staatsmänner versuchen andere zu beherrschen, im innersten Herzen wissend, daß sie nicht einmal sich selbst regieren können. Die größte Macht ist demjenigen zu Diensten, der seine tiefste Tiefe durchdrungen hat. Was nützt es dir, alles zu wissen, wenn du nicht weißt, wer du selbst bist? Diese Selbsterforschung ist die einzig lohnende Unternehmung. (*5)
Der Maharshi hatte in seiner Jugend keine besondere religiöse Erziehung erhalten und kannte daher die Heiligen Schriften des Hinduismus nicht. Als ihm Gelehrte diese nun zur Erläuterung und Kommentierung vorlegten, sah er seine eigene Erfahrung darin beschrieben. Sein hervorragendes Gedächtnis half ihm erneut, die alten Texte zu verinnerlichen und sie bei Bedarf in seinen Antworten zu verwenden. Trotzdem orientierte er sich am einfachen alltäglichen Sprachgebrauch, so wie er selbst auch durch seine Einfachheit, Anspruchslosigkeit und Güte die Menschen, die ihm begegneten im innersten Herzen berührte und bewegte.
Am Grab seiner Mutter, die seine Schülerin geworden war, entstand allmählich der heutige Ashram, der seinen Namen trägt. Der Tagesablauf war genau geregelt, der Maharshi achtete selbst auf peinliche Ordnung, Sauberkeit und Sparsamkeit, was für indische Verhältnisse ungewöhnlich war. Jeder, der es wünschte, durfte ihn besuchen.
Seine Anhänger hatten im Herzen des Ashram eine Halle gebaut, in der er sich die meiste Zeit des Tages und der Nacht aufhielt. Wer immer ihn sprechen wollte, ging in die Halle, setzte sich vor ihn hin und stellte seine Frage. Gegen Ende seines Lebens, als der Maharshi durch eine Krebserkrankung schon sehr geschwächt war, versuchten seine engsten Vertrauten diese Praxis einzudämmen, um ihm ein wenig Ruhe zu gönnen. Sie ließen im Ashram verlauten, es sei nicht mehr gestattet, die Halle in der Mittagszeit von eins bis drei zu betreten.
Am nächsten Tag fand einer der Ashramiten den Maharshi in der Mittagssonne vor dem Eingang zur Halle am Boden sitzend. Erschrocken fragte er Bhagwan, was er da tue. Er habe gehört, antwortete dieser schlicht, es sei nicht mehr erlaubt, sich zwischen eins und drei in der Halle aufzuhalten. Das Verbot wurde umgehend aufgehoben.
Es gibt niemanden, der nicht Shiva ist. Er ist nicht nur Shiva, sondern auch alles andere, dessen er gewahr oder nicht gewahr ist. Und doch glaubt er in schierem Nichtwissen, daß er das Universum in vielfältiger Gestalt sähe. Schaut er aber sein Selbst, dann wird er gewahr, daß er vom Universum nicht getrennt ist. (*6)
Obwohl der Maharshi wiederholt äußerte, daß er keine Schüler habe – da alles nur das eine Selbst sei, wie könne es dann eine Beziehung zwischen Lehrer und Schüler geben – kamen immer mehr Menschen, um in seiner Nähe zu verweilen. Manche blieben nur ein paar Stunden, andere wiederum mehrere Wochen oder Monate, wenige schließlich entschlossen sich, bei ihrem „Guru“ zu leben.
Und obwohl er, wie er selbst sagte, die Wahrheit am besten durch sein Schweigen ausdrücken konnte, wurde er nicht müde, jedem auf sein persönliches Anliegen eine Antwort zu geben. Deren Essenz blieb jedoch stets die gleiche: Frage dich, wer diese Frage stellt, wem diese Gedanken kommen, wer dieses Leid empfindet. Wer ist dieses „ich“, das so selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß kaum einer sich die Mühe macht, seine Existenz zu überprüfen. Gib dich mit keiner Antwort zufrieden, forsche weiter, bis sich die wahre Natur deiner Selbst enthüllt.
Glück ist die wahre Natur des Selbst. Glück und Selbst sind nicht etwas Verschiedenes. Es gibt kein Glück in irgendeinem Objekt der Welt. Wir stellen uns in unserer Unwissenheit vor, wir würden Glück durch Objekte empfinden. Wenn der Geist nach außen geht, erfährt er Leid. Wenn seine Wünsche erfüllt werden, kehrt er in Wirklichkeit zu seinem Ursprung zurück und erfreut sich an dem Glück, das das Selbst ist. (*7)
Im Januar 1949 wurde bei Bhagwan ein bösartiger Tumor im linken Arm diagnostiziert. Seinen Anhängern zuliebe ließ er in den folgenden eineinhalb Jahren verschiedene Behandlungen und sogar eine Operation über sich ergehen, obwohl er es verabscheute, daß um ihn soviel Aufhebens gemacht wurde. Immer wieder wies er darauf hin, daß Bhagwan nicht der sich zersetzende Körper sei und er es daher für absurd hielt, diesen am Leben erhalten zu wollen. Aber er verstand auch, daß die verzweifelten Bemühungen um seine Gesundheit seinen Anhängern half, ihre Trauer um den geliebten Meister zu bewältigen, weswegen er alle Versuche, den Krebs zu besiegen, geduldig hinnahm.
Am 14. April 1950 verließ Ramana Maharshi endgültig seinen Körper. Bis zuletzt hatte er Besucher empfangen und ihre Fragen beantwortet. Man hatte ihn in einen kleinen Nebenraum auf eine Liege gebettet, er atmete nur noch schwach. Vor dem Eingang der Haupthalle saß eine große Menschenmenge. Plötzlich fing sie an, eine von Bhagwans Hymnen an den Berg Arunachala zu singen.
Der Maharshi öffnete seine Augen und lächelte. Dann atmete er ein letztes Mal aus. Im selben Augenblick durchquerte eine Sternschnuppe den Nachthimmel und berührte scheinbar die Spitze des Heiligen Berges. Später wurde erzählt, man hätte sie sogar im hundert Kilometer entfernten Madras gesehen.
Alle Lebewesen wünschen sich dauerhaftes Glück und Freiheit von Leiden. Jeder empfindet offensichtlich tiefe Liebe zu sich selbst, und nur Glücklichsein ist die Ursache von Liebe. Um dieses Glück zu erfahren, das unser wahres Wesen ist und das man im Zustand des Tiefschlafs erlebt, sollte man sein Selbst erkennen. Dazu ist der Pfad des Wissens, die Erforschung mit der Frage „Wer bin ich?“ Das wichtigste Mittel. (*8)
Corinne Frottier aus dem advaitaJournal vol.8 - 2002
Katrin Fuchs hat als Vertreterin von advaitaMedia im Februar 2018 dem Präsidenten des Ramanashramam drei frische Exemplare von <NAN YAR?> persönlich überreicht und das Buch wurde ein weiteres Mal von ihm gesegnet. Zudem wurde es auf den heiligen Berg Arunachala getragen und der ich-zerstörenden Kraft Shivas dargereicht. Nun ist es an dir, dieses kraftvolle Heilmittel zu empfangen.
Herzlichst
advaitaMedia
(*1) Ramana Maharshi: Nan Yar? Bielefeld 2002, S.54
(*2) Arthur Osborne: Ramana Maharshi and the Path of Self-Knowledge. London, 1973, S.15
(*3) Ebd., S.18
(*4) Ramana Maharshi: Five Hymns to Sri Arunachala. In: Arthur Osborne a.a.O., S.173 (Übers. Die Autorin)
(*5) Arthur Osborne, a.a.O., S.21
(*6) Ramana Maharshi: Gespräche des Weisen vom Berge Aruanchala. Interlaken, 1984, S.400
(*7) Ramana Maharshi: Nana Yar, a.a.O., S.70
(*8) Ebd., S.24