Was hat Schreiben mit Spiritualität zu tun?
- Teil 2 -
von Ulrike Dietmann -
ERFAHRUNG: Wir stecken immer in irgendeiner Geschichte
Der spirituelle Weg heißt nicht umsonst „Weg“. Je genauer ich ihn studierte, angetrieben von der Überlebensnotwendigkeit mein Pferd zu bändigen und meinen Roman zu schreiben, desto klarer erkannte ich: Der spirituelle Weg folgt denselben Gesetzmäßigkeiten wie eine Geschichte.
Jede Phase des Weges hat einen Anfang, eine dramatische Steigerung, Wendungen und eine Auflösung, auch Transformation genannt oder Katharsis (griechisch für „Reinigung“). Danach beginnt die nächste Phase. Joseph Campbell, der amerikanische Mythologe hat dies genial erforscht. Er hat Geschichten aus aller Welt abgeklopft auf ihren gemeinsamen Nenner und genau diese grundlegende spirituelle Dramaturgie entdeckt. Mit Hilfe dieses Modells generiert Hollywood seither seine internationalen Blockbuster und die Hero’s Journey wird ebenso erfolgreich in der Persönlichkeitsentwicklung und auf dem spirituellen Pfad eingesetzt. (ein sehenswerter neuer Film dazu: „Finde dich“ von Patrick Takaya Solomon.)
Die Essenz der Heldenreise ist kein intellektuelles Konstrukt, sondern ein Tor zur reinen Erfahrung. Und um nichts anderes geht es in einer gut geschriebenen Geschichte: dem Leser eine Erfahrung zu vermitteln. Um nichts anderes geht es beim Schreiben: als Autor eine Erfahrung mit Sprache und Dramaturgie zu machen. Auch hier berühren sich spiritueller Weg und Schreiben aufs Engste.
Auch hier schlagen wir Autoren uns mit ähnlichen Schwierigkeiten herum wie die spirituellen Sucher. Auch hier stoßen wir auf die Themen, die uns jenseits des Schreibhandwerks vor die größten Herausforderungen stellen, die unser Potential als Autoren aber enorm voranbringen.
Wie kommen wir in den Schreibprozess hinein? Wohin führt er uns? Wie vermeiden wir Blockaden? Wie machen wir uns den Weg leichter, widerstandsloser? Wie werden unsere Geschichten emotionaler, unsere Figuren lebendiger? Hier liegen riesige Felder brach, die wir zum Blühen bringen können. Und bei all dem macht der spirituelle kreative Weg auch noch ungeheuer Spaß. Weil er faszinierend ist, weil wir dabei nicht nur tiefer ins Schreiben eintauchen, sondern auch uns selbst als kreative Quelle immer besser kennenlernen.
Eine kleine Übung:
Richte beim Schreiben deine Aufmerksamkeit auf deine Körperwahrnehmung. Bist du innerlich ruhig, bist du aufgekratzt, spannen sich deine Schultern oder dein Nacken an, hast du einen Kloß im Magen? Und wie verändern sich diese Körpergefühle, während du schreibst? Wie fühlst du dich, nachdem du deinen Text beendet hast? Erleichtert? Hast du ein Gefühl von Vollendung? Ein Gefühl, alles gesagt zu haben? Oder fehlt noch etwas? Will da noch etwas heraus? Lauert da noch ein Tiger im Schatten? Der kreative Prozess ist immer begleitet von einem körperlichen Prozess, einer inneren Spannung und Entladung.
Unser Körper gibt uns präzise Antworten mittels der energetischen Ströme, Blockaden und Formationen, ein Gebiet, auf dem sich momentan Scharen von Forschern tummeln und auf dem auch wir Autoren Nützliches lernen können.
Je genauer du hinfühlst und wahrnimmst, desto bewusster wird dir, dass es der Körper ist, der unser Schreiben bestimmt. Unser Körper braucht das Schreiben, weil es uns angenehme Gefühle bereitet.
Deshalb treibt er uns zum Schreibtisch genauso wie zur Eisdiele. Wenn wir dafür sorgen, dass unser Körper beim Schreiben angenehme Erfahrungen macht, Entspannung, Entladung, Freude erfährt, wird sich unsere Produktion erheblich steigern. Wenn wir unserem Körper keine angenehme Schreiberfahrung bereiten, wird ihn keine Macht der Welt lange ausharren lassen.
Das Schreiben erfordert so viel feine Wahrnehmung, dass ein allgemeines Wohlgefühl die mindeste Voraussetzung ist. Dazu müssen wir unseren Körper nicht mit Schokolade füttern. Viel hilfreicher und gesünder ist es, die feinen Zeichen unseres Körpers wahrzunehmen und entsprechend zu handeln, indem wir zum Beispiel einen langatmigen Dialog kürzen, worauf sich ein sofortiges körperliches Wohlgefühl einstellt.
Machen wir uns also wie die Zen-Mönche, wie die Amazonen und tibetanischen Teetrinker unseren Körper zum Freund – nicht indem wir Pfeile vom galoppierenden Pferd abschießen, sondern in dem wir gute Texte schreiben.
Herzlichst
Ulrike Dietmann