Fortsetzung - Alle Jobel-Jahre wieder…
von Claudia Sieber Bethke -
Wenn man einen Menschen fragt, der sich selbst als Opfer von etwas oder jemanden sieht, wer denn schuld an seiner Situation ist, wird man meist sofort eine Antwort bekommen. Dann werden der Chef, die Wirtschaftskrise, die Elektrik, der Partner, die Kinder, die Kirche oder die Eltern bemüht. Und manch einer identifiziert sogar humorvoll die Badehose als Schuldiger, wenn er nicht schwimmen kann! Doch mal im Ernst, wir haben Mit-Gefühl mit einem Opfer – gerade weil der eine oder andere sich sehr genau an das Gefühl in dieser Rolle erinnert. Und sind wir dann nicht besonders einfühlsam und behutsam mit den Leid-Tragenden? Wir helfen wo wir können und es hilft sogar tatsächlich manchmal. Es ist immer wieder schön zu sehen, wie sich Menschen, die eine schmerzhafte Erfahrung gemacht haben, wieder erholen und ihren Weg neu aufgreifen, weitergehen oder mutig einen neuen Weg einschlagen. Aber dann gibt es da noch die andere Art der Opferleidenden. Vielleicht ist Ihnen auch schon einmal Folgendes passiert…
Jemand aus Ihrer näheren emotionalen Umgebung kommt völlig aufgelöst zu Ihnen, weint ganz bitterlich und weiß nicht mehr ein noch aus. Irgendetwas hat ihn ganz schrecklich verletzt und seine Welt ist zusammen gebrochen. Er weiß nicht mehr weiter. Sie waren aufmerksam, haben ihm zugehört, ihn in den Arm genommen und versucht ihn zu trösten. Dann nach einer Weile versuchten Sie, ihm Mut zu zusprechen und ihn dabei zu unterstützen, wieder den eigenen Weg aufzugreifen. Wieder an sich zu glauben. Sie entwickelten Ideen und Lösungsvorschläge und das möglichst einfühlsam. Und das Gegenüber stimmt schluchzend zu und sie hören etwas Zuversicht in der Stimme des anderen. Er scheint skeptisch und unsicher, aber leise hoffnungsvoll. Nun ja, Sie werden sehen und im Zweifelsfall sind Sie ja da, um zu unterstützen. Es scheint geholfen zu haben – Gott sei Dank! Wir fühlen uns beruhigt, denn nichts ist schlimmer, als einen Menschen leiden zu sehen und am schlimmsten fühlt es sich bei den Menschen an, die man liebt…
Nach ein paar Tagen kommt dieser Mensch wieder vorbei. Immer noch verstört, todunglücklich und verzweifelt. Sie tragen auch den überzeugenden Glaubenssatz „Zeit heilt die Wunden“ in sich und üben sich in Geduld. Sie wiederholen die ausgearbeiteten Ratschläge, passen diese gegebenenfalls an und hoffen, dass sich ihr Freund beruhigt. Nach ein paar weiteren Tagen treffen sie sich wieder und alles ist unverändert. Sie unterstützen und begleiten, raten und hören viele Stunden lang zu. Es ziehen Wochen, Monate, ja manchmal sogar Jahre ins Land. Die „heilende“ Zeit vergeht, jedoch die Wunden bleiben scheinbar frisch… Hat hier etwa die vielgelobte Heilungszeit versagt? Oder ist vielleicht der Freund ein Opfer, der seine Rolle gerade braucht? Denn endlich bekommt er ein einfühlsames und behutsames Gegenüber – das war das worauf er schließlich sein Leben lang gewartet hat! In diesem Fall dient das Opferdasein der Bedürfniserfüllung. Dies ist meistens kein bewusstes Handeln, aber wer handelt schon immer bewusst…
Doch eins ist auch klar, so wie ein Schuldiger immer ein Opfer hat, so braucht auch ein Opfer einen Schuldigen! Im Fall der Bedürfniserfüllung liegt es allerdings nahe, dass hier der Schuldige auch gleichzeitig ein Opfer ist. Denn es wird in diesem Fall niemals eine Ent-Schuldigung geben… Die beiden sind miteinander verbunden – aber nicht nur, weil der Schuldige das Opfer scheinbar nicht „in Frieden“ lässt – sondern auch weil das Opfer den Schuldigen braucht und nicht in Frieden ent-lässt.
Und eines haben Schuldige und Opfer gemeinsam… Eine tiefe Sehnsucht nach EntLASTung. Endlich von dieser furchtbaren Last entbunden zu werden. Das klingt so, als könne man nur hoffen und darauf warten, dass irgendwann JEMAND vorbei kommt und einem diese schreckliche Last von den Schultern nimmt. Die schlaflosen Nächte beendet, die einen die fürchterliche Tat immer und immer wieder erleben lassen. Den Schuldiger und das Opfer. Auf ewig miteinander verstrickt…ohnmächtig! Diese Überlegung lässt vermuten, dass wir ohne Macht sind und nur dieser Jemand die Macht darüber hat und damit über uns und unser Leben. Schon wieder wären wir bereit, um des Friedens willen unserer Verantwortung an jemand anderen abzugeben.
Doch niemand hat die Verantwortung für uns – niemand hat die Macht, unser Opferdasein zu beenden. Es gibt niemand, der uns sagen kann, was richtig für uns ist. Niemand, der uns sagt, wie das Leben leichter zu leben geht. Niemand, der die Entscheidung darüber treffen kann, ob wir noch länger Opfer bleiben (müssen) oder nicht! Wir selbst treffen diese Entscheidung und wir selbst können uns ent-Last-en! Indem wir den anderen ent-lassen. Frieden ist in uns – wir erzeugen ihn nicht. Allerdings sind wir in der Lage Unfrieden zu erzeugen, durch unfriedliche Gedanken. An die Schuld, an das Opferdasein, an das Vergangene. Und es ist niemals klar definierbar, was es gerade ist und wer wir gerade sind. Sind wir gerade Opfer oder Schuldiger? Das kommt auf den Blickwinkel an… und den kann man verändern.
Wäre es nicht schön, diese alte Tradition des „Jobelns“ aufzugreifen und unseren Schuldigern etwas zurück zu geben, was ihnen gehört? Die Verantwortung für ihr Handeln! Das funktioniert mit der Aufgabe der eigenen Opferhaltung. Wir lösen die Verbindung, in dem wir beschließen kein Opfer mehr zu sein und dem anderen seine „Schuld“ zurück geben. Wir sind ganz und gar nicht ohne Macht! Wir holen uns unsere Macht zurück, indem wir Verantwortung übernehmen und dem anderen seine Verantwortung zurückgeben. Was geschehen ist, ist geschehen. Nichts lässt sich verändern, was einmal war. Vergeben heißt nicht, etwas ungeschehen machen. Vergeben heißt, dem Erlebten einen Platz in unserem Leben geben und uns als damaliges Opfer damit zu würdigen. Als Opferbeigabe legen wir die Erinnerung an das Geschehene bei. Und wenn uns danach ist, dann können wir es wieder herausholen und liebevoll betrachten. Denn das Geschehene hat uns bis hierher gebracht, hat uns zu dem gemacht, der wir sind. Einzigartig und voller Wunder! Wir haben es überlebt, aus eigener Kraft. Mit der Entscheidung, einen neuen Weg zu gehen, mit der Gewissheit, dass das Opfer von damals ein liebevolles Zuhause in der Vergangenheit gefunden hat, holen wir uns unsere Macht zurück.
Denn niemand kann unser Leben für uns zu leben – das können wir nur selbst!
Herzlichst Ihre Claudia Sieber Bethke
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