Alle Jobel-Jahre wieder…
von Claudia Sieber Bethke -
hat sich hier nicht ein kleiner Fehlerteufel eingeschlichen?! Muss das nicht alle Jubeljahre heißen?
Nein, der Ursprung dieses Wortes ist tatsächlich "Jobel"-Jahr! Im mittelalterlichen Christentum wurde erstmals im Jahr 1300 ein Jobeljahr als heiliges Jahr ausgerufen, in dem ein besonderer Sündenablass möglich war. Das bedeutete Freiheit für die Sklaven, von denen sich viele wegen Schulden hatten verkaufen müssen. Normalerweise erfolgte eine solche Freilassung erst im siebten Jahr der Knechtschaft, doch in einem Jobeljahr wurden auch diejenigen freigelassen, die noch keine sechs Jahre gedient hatten. Auch alle Länderteile, die verkauft worden waren (gewöhnlich wegen finanzieller Rückschläge), wurden zurückgegeben, und ein jeder kehrte zu seinen Angehörigen und zu seinem Familienbesitz zurück. Keine Familie konnte für immer vollständig verarmen. Ehre und Selbstachtung jeder Familie wurden gewahrt. Selbst das Vermögen eines Verschwenders ging seinen Erben nicht für immer verloren. Die ursprüngliche Periode von 100 Jahren wurde immer weiter verringert, bis sie schließlich ab dem Heiligen Jahr 1475 auf die heute üblichen 25 Jahre festgelegt wurde. Daraus abgeleitet ist die Redewendung „alle Jubeljahre einmal“, was so viel heißt wie „extrem selten“, da der Mensch in der Regel nur zwei bis drei dieser Jubeljahre erlebt(e).
Welche Entlastung muss das für die Schuldner von damals gewesen sein! Und für deren Familien. Und welch schönes Gefühl für denjenigen, der das Jobeljahr tatsächlich genutzt hat, die Schulden zu erlassen. Sozusagen, an den Schuldner zurückzugeben - zu vergeben…
Nun, vielleicht wird der eine oder andere sagen, der Schuldner ist doch selbst schuld, dass er in so einer Lage ist! Das ist eine Möglichkeit, die Situation zu betrachten. Aber es gibt noch eine andere Sichtweise, wenn wir bereit sind, den Winkel unseres Blicks zu verändern…
Da ist ein Mensch der an etwas „schuld“ zu sein scheint – zumindest fühlt er sich so – oder er wird von Anderen als ein solcher zur „Verantwortung“ heran gezogen. Jemand der aus verschiedenen Gründen – die er meist selbst nicht genau kennt – in eine Situation geraten ist oder diese sogar selbst herbeigeführt hat. Etwas ist geschehen, aus den Fugen geraten, unvorhersehbar gewesen, nicht bedacht worden, völlig übersehen, überschätzt, unterschätzt – einfach „blöd“ gelaufen. Und doch ist jetzt eine Schuld im Raum – und der Schuldige wünscht sich sehnlichst, nicht mehr daran schuld zu sein…
Geschieht ihm ganz Recht, das hat er verdient, wie „blöd“ kann man sein…. Das sind nur ein paar der Bewertungssätze der Mitmenschen, die sich ganz sicher sind, dass ihnen das niemals geschehen könnte!
Und was ist mit den Mitmenschen, die an dieser Schuld beteiligt waren? Die „Leidtragenden“?! Die Opfer! Ja genau, die Opfer! Denn wenn es einen Schuldigen gibt, dann muss es dazu auch ein Opfer geben. Und das Opfer kann ja nichts dafür, dass ihm das Leid wiederfahren ist! Sicher, die meisten Opfer können nichts dafür. Auch sie sind da irgendwie hineingeraten, es ist geschehen, etwas ist aus den Fugen geraten, unvorhersehbar gewesen, nicht bedacht worden. Die Gefahr wurde völlig übersehen, überschätzt, unterschätzt – es ist leider „blöd“ gelaufen. Und doch steht hier nun ein Opfer – oft gefühlt allein – im Raum… und wünscht sich sehnlichst, kein Opfer mehr sein zu müssen. Was für Parallelen! Doch ist es wirklich wahr, dass man ein Opfer bleiben muss? Wie viele Menschen fühlen sich sehr lange – vielleicht ihr Leben lang - als Opfer, obwohl der Schuldige längst nicht mehr in der Nähe ist… Er ist vielleicht weggezogen oder gar verstorben, eigentlich nicht mehr präsent. „Wenn ich daran denke, dann ist es so, als sei es gestern gewesen…“, wer hat diesen Satz nicht schon oft gehört oder ihn sogar selbst ausgesprochen. Es ist die Erinnerung, die das Geschehene am Leben erhält – der Schuldige ist vielleicht nicht mehr da, aber das Gefühl von damals ist sehr präsent!
Wie oft liegt das schrecklich Erlebte schon Jahre zurück. Und der Glaubenssatz „Zeit heilt die Wunden“ hilft dem einen oder anderen, darauf zu hoffen, dass es irgendwann mal nicht mehr so weh tut… Aber Zeit heilt keine Wunden! Nicht solange man an dem Erlebten festhält. Als immer wieder kehrende Erinnerung, die von Gedanke zu Gedanke schmerzlicher wird, weil man spürt, es braucht uns nur irgendetwas oder irgendjemand daran erinnern und schon ist wieder alles da! Der Verdrängungsmechanismus funktioniert paradoxerweise eben nur, solange es uns gut geht und keiner den „Knopf“ drückt. „Also bitte erinnere mich nicht DARAN!“ Mit diesem Satz geben wir die Verantwortung an den anderen ab – der uns gefälligst sehr sorgsam behandeln sollte, damit wir uns nicht daran erinnern - und uns nicht wieder wie das Opfer von damals fühlen müssen. Unser Gegenüber sollte also bitte einfühlsam und behutsam sein. Und wenn er es nicht ist, dann ist er schließlich selbst „schuld“, wenn unsere Laune wegkippt. „Das hättest du dir doch denken können…!“ ist gleich unser aufklärender Satz für den ahnungs- und ratlosen Partner. „Ist doch immer dasselbe – und warum passiert das immer mir, dass ich an „solche“ Menschen gerate…?!“ Und schon haben wir einen weiteren Schuldigen in unserer Opferlaufbahn. Und der sehnlichste Wunsch, endlich kein Opfer mehr zu sein ist, bleibt tief im Herzen verankert.
Verdrängen scheint also nicht wirklich der richtige Weg zu sein, um das Erlebte wieder loszuwerden. Aber gibt es überhaupt eine Lösung dafür – oder besser DAVON?
Wir können die Dinge, die uns widerfahren sind, nicht ungeschehen machen. Was geschehen ist, ist geschehen. Einiges davon war schrecklich und vieles davon kaum zu ertragen. Aber wir sind doch irgendwie weiter gekommen. Wir sind hier – JETZT! Und das Geschehene WAR… Ja, wir waren Opfer - in dem damaligen Moment. Und der andere war bestimmt daran schuld! Doch wollen wir uns nicht endlich davon lösen? Es ist möglich endlich kein Opfer mehr zu sein – es ist nur eine Entscheidung weit weg…
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Herzlichst Claudia Sieber Bethke
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