»Die Liebenden« im Tarot und in uns
Liebe ist etwas Ideelles.
Heiraten etwas Reelles:
und nie verwechselt man ungestraft
das Ideelle mit dem Reellen.
Johann Wolfgang von Goethe
Bild 1
Karten Abbildung © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch/Deutschland
www.koenigsfurt-urania.com
Die ewige Sehnsucht
Es gibt wohl wenige Themen, über deren Stellenwert es heute – und so weit wir geschichtlich zurückschauen können – einen so hohen Konsens gibt wie bei dem Thema der Liebe zwischen Mann und Frau. Fast jeder Mensch, ob nun aus dem Orient oder aus dem Okzident, ob jung oder alt, ob moralisch oder amoralisch, ob materiell oder geistig orientiert, jeder sehnt sich nach einer erfüllten Liebesbeziehung. Wie schwer es aber ist, diese so gegensätzlichen Pole wieder in Harmonie zu bringen, von denen der eine vom Mars zu kommen scheint und der andere von der Venus, wissen wir alle nur zu gut aus eigener Erfahrung.
Die ernüchternde Praxis
Eine liebevolle, respektvolle und dauerhafte Beziehung zwischen Mann und Frau, bei der auch die erotische Liebe den ihr zustehenden Platz erhält, gehört zu den größten Herausforderungen des menschlichen Lebens.
Es scheint aber so, als ob wir auf das, was in unserer inneren Werteskala einen so hohen Platz einnimmt, am allerwenigsten vorbereitet würden. Wir lernen in der Schule Mathematik und Chemie, Physik und Biologie auf einem unerhört hohen abstrakten Niveau, aber wann lernen wir in unserer Ausbildung je etwas darüber, wie die Liebe zwischen Mann und Frau gelingen kann? Und so schwanken wir zwischen einem blindem Hineinstürzen in die Erfahrung und einem Festhalten an überlieferten Regeln, hin und her, und finden dabei so selten wirkliche Sicherheit in unserer Seele. Und so besteht die Geschichte unserer persönlichen erotischen Beziehungen nicht selten aus einer Aneinanderreihung von schmerzlichen Erfahrungen oder unerfüllten Träumen, ohne dass wir so recht wissen, warum Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander liegen.
Wo finden wir Hilfen?
Nun gibt es ja zum Thema Liebe und Ehe unzählige Ratgeber, die aber nur zu oft zeitgeistigen Modeströmungen unterworfen sind und deshalb oft nicht bis an die eigentlichen Wurzeln des Problems heranreichen. Besser als sie sind die Überlieferungen der Menschheit z.B. der Tarot, eine heilige Schrift in Bildern, wenn man so will, geeignet, uns einiges über die Geheimnisse der Liebe zwischen Mann und Frau zu verraten. Und so gibt es unter den 22 Großen Arkana des Tarot auch mit Trumpf Sechs eine Karte, welche »Die Liebenden« (Bild 1) bezeichnet wird. Und im Falle der Karte Nummer Sechs können wir das Thema sogar aus zwei völlig verschiedenen Perspektiven betrachten, nämlich im Rider-Waite Tarot, das aus dem beginnenden 20. Jahrhundert stammt, aus dem Blickwinkel der Urprinzipien des Männlichen und Weiblichen – und im noch wesentlich älteren Marseille Tarot, das auf das 15. Jahrhundert zurückgehen soll, aus dem tiefenpsychologischen Blickwinkel, welcher die so häufig thematisierte Stufe des jugendlichen Verliebtseins behandelt und »Der Liebende« genannt wird.
Die Liebenden im Tarot als Ideal
Werfen wir zuerst einen Blick auf »Die Liebenden« im Rider-Waite-Tarot (Bild 1). Wenn wir hier nur einmal die Sprache der Bilder auf uns wirken lassen und für einen Moment alle eingefahrenen Gedankenmuster ruhen lassen, so fühlen wir uns sogleich an einem ganz tiefen Punkt berührt. Spricht diese Bildsymbolik nicht unmittelbar dieses unser inneres Liebesideal an, das ich am Anfang erwähnt habe, diese tiefste Sehnsucht nach Ganzheit, die wir uns in einer Liebesbeziehung erhoffen?
Schauen wir genau auf das Bild, sehen wir, vielleicht etwas überraschend, dass die Frau nicht auf den Mann schaut, sondern auf den Engel. Der Mann wiederum ist es, der auf die Frau schaut. Was bedeutet das? Nun, in der esoterischen Tradition steht der Mann für den Logos, die Weisheit, die Frau aber für den Eros, die Liebe. Die Verhältnisse, auch in jedem einzelnen Menschen, sind gesund, wenn der Verstand sich nach dem Herzen richtet. Das Herz wiederum bekommt seine Inspiration vom Engel. Wenn die Verhältnisse so stimmig sind, dann ist der Segen von oben gewährleistet. In diesem Bild ist somit bereits der ideale Endzustand der Mann-Frau-Beziehung dargestellt, also tiefenpsychologisch die Rückkehr in den paradiesischen Zustand.
Der Liebende im Spannungsfeld zwischen Mutter und Geliebten
Ein völlig anderes Bild als in Abbildung 1 ergibt sich nun, wenn wir die Darstellung der Karte Nr. 6 im Marseille-Tarot, jetzt »Der Liebende« genannt, betrachten. Wir sehen darauf einen jungen Mann, der zwischen zwei Frauen steht, unschwer als seine Geliebte, links von ihm aus gesehen, und seine Mutter auszumachen. Kommt uns nicht auch diese Abbildung irgendwie vertraut vor? Die Geliebte berührt mit ihrer linken Hand zart sein Herz, seine Mutter fasst ihn ihrerseits mit der Linken fest an der Schulter, und seine Augen sind auf seine streng blickende Mutter gerichtet, nicht auf die engelgleiche Geliebte. Und der Engel über ihnen, der jetzt im Gegensatz zu der Rider-Waite-Karte nicht als Erzengel, sondern als Gott Amor erscheint, zielt mit seinem Pfeil ebenfalls auf sein Herz. Es ist also offensichtlich: Zwei Frauen ringen um die Gunst des Jünglings, und der Engel versucht das Zünglein an der Waage zu sein.
Vom Pfeil Amors getroffen
Der Jüngling ist wohl in einem Alter, in dem er gerade die Geschlechtsreife erreicht hat, und die starke Naturkraft zieht ihn zur Frau als Sexualpartnerin hin. Und er hat auch schon seine Herzensdame gefunden, ihm eigentümlich ähnlich, fast wie eine Schwester, was bedeutet, dass es sich bei beiden um eine Seelenverwandschaft handelt. Sie hat ihre linke Hand auf sein Herz gelegt und dieses, wohl mit tatkräftiger Unterstützung Amors, zum Teil auch erobert.
Wo die Geschichte in den romantischen Filmen endet, da geht es im richtigen Leben erst los.
Denn die gestrenge Dame zur Rechten unseres Helden ist ja mit ihrer Präsenz wirklich nicht zu übersehen. Sie hat ihren Sohn mit festem Griff an der Schulter gefasst und man sieht ihr an, dass sie sich des Einflusses, den sie auf ihn ausübt, sehr wohl bewusst ist. Während er, anstatt auf seine Geliebte, den etwas unsicheren Blick auf die Mutter gerichtet hat, geht ihrerseits ihr Blick nicht zu ihrem Sohn, wie man es für eine liebende Mutter erwarten könnte, sondern zu seiner Geliebten. Damit verrät sie bereits ihre wahren Absichten. Sie ist klug genug zu wissen, dass ihr Sohn eine junge Frau an seiner Seite für seine sexuellen Bedürfnisse braucht, aber sie ist streng darauf bedacht, das Zepter in der Hand zu behalten.
Damit offenbart uns diese Karte des Marseille-Tarots eine tiefe psychologische Wahrheit. Wie viele junge und auch ältere Männer haben sich zum Leidwesen ihrer Ehefrauen und Freundinnen seelisch noch nicht von ihren Müttern gelöst und sind diesen gegenüber immer noch in der Kinderrolle verhaftet! Dies hat zwangsläufig zur Folge, dass sie ihren Frauen und Geliebten nicht wirklich ein reifer Partner sein können.
Die Überwindung des materiellen Bewusstseins
Aus diesem Teufelskreis kommen beide nur heraus, wenn sie in der Lage sind, aus der rein materiellen Orientierung den Schritt ins Geistige zu machen. Sie müssten sich dann als erstes zu der Erkenntnis hin entwickeln, dass sie beide gleichermaßen Mitglieder eines Systems sind, das den Menschen auf sehr subtile Weise und mit vielerlei Mitteln von »Seins-Werten« zu »Haben-Werten« hin manipuliert. Das heißt, der Mensch selbst wird nicht mehr als Zentrum und Ziel gesehen, dessen materieller und geistiger Entwicklung sich alles andere unterzuordnen hätte, sondern wird missbraucht als Wirtschaftsfaktor, als Konsument und Rädchen in einem System, das in erster Linie auf Profitmaximierung als Selbstzweck ausgerichtet ist. Mit dieser Erkenntnis könnten unsere Liebenden für ihr Leben und ihre Beziehung eine ganz neue Basis finden, die plötzlich auf Verstehen der wahren Verhältnisse, Verständnis füreinander und, ja, so ungewohnt das heute klingen mag, auf Solidarität mit dem anderen Geschlecht (!) aufgebaut ist. Dieser Schritt ist nicht leicht, und sehr wenige sind in der Lage ihn mit allen Konsequenzen zu machen.
Die offene Beziehung als Forderung der Zeit
Was aber können wir gewöhnlichen Menschen aus der Kontemplation mit den Tarot-Karten für unsere eigenen Beziehungen praktisch mitnehmen? Für mich hat sich daraus – und aus der Beobachtung von vielen Partnerschaften in meinem Umfeld und in den Medien – als Konsequenz auch ergeben, dass an der offenen Beziehung zwischen Mann und Frau in unserer Zeit kein Weg mehr vorbeiführt.
Was genau ist unter offener Beziehung zu verstehen? Sie ist keinesfalls gleichzusetzen mit dem, was man üblicherweise unter freier Liebe versteht. Der Begriff »freie Liebe« allein ist ja schon ein Widerspruch in sich selbst, weil es natürlich keine »unfreie« Liebe geben kann. Echte Liebe kann nur frei sein. Dafür ist die unbedingte Voraussetzung, dass beide Partner ihren Mittelpunkt in sich selbst bereits gefunden haben und nicht mehr den Ausgleich ihrer jeweiligen Defizite von dem Partner in einer idealisierten Liebe erwarten.
Diese unbedingte Offenheit dem kompletten Spektrum des Lebens gegenüber ist notwendig, um das gesamte Potential der Erneuerung ausschöpfen zu können, denn das Leben als die große Mutter sucht immer unsere Mängel auszugleichen oder ein falsches Konzept zu korrigieren. Diese Art von Offenheit ist heute, da Angst sich zu einer der dominantesten Zeiterscheinungen entwickelt hat, sehr selten geworden.
Liebe braucht Freiheit
Lasst uns das Reich des Eros wieder zu einem offenen Feld machen, wie bei den Vätern unserer abendländischen Kultur, den alten Griechen. Ihre Größe lag nicht darin, dass sie moralisch untadelig waren, sondern dass sie kraftvoll und authentisch, den in ihnen wohnenden archetypischen Kräften folgten, ja gezwungen waren zu folgen. Odysseus, Aphrodite, Hermes, Helena, Ödipus und wie sie alle heißen, wären dann nach unseren Moralvorstellungen viele Male »fremd«gegangen. Aber wehe uns Heutigen, sie hätten es nicht getan! Wie farblos, kraftlos und unbedeutend wären ihre Geschichten gewesen, genauso wie es nur zu oft unsere eigenen sind, und wir hätten sie längst vergessen. Dieses Reich lebt immer noch auch in uns zivilisationskastrierten Affenmenschen, sonst würden uns diese alten Geschichten nicht wie eh und je so faszinieren, sonst hätten wir nicht den Mut, seinen Eingebungen und Führungen auch in unseren eigenen Biographien zu folgen. Und dann kann es passieren, dass der enge Rahmen der bürgerlichen Partnerschaft gesprengt wird. Das muss aber auch in der offenen Beziehung nicht zwangsläufig zu Promiskuität führen. Grosse Intimität in der Erotik, zumindest so lange wie sie eine gewisse Intensität hat, ist von Natur aus monogam – das für alle Moralisten zur Beruhigung. Aber wie oft geht diese Tiefe im Laufe der Zeit verloren und verwandelt sich in eine leere Hülle, die langsam austrocknet, begleitet von Heuchelei und Täuschung. Dann ist es oft gerade, und das wissen die Paartherapeuten am allerbesten, der so genannte »Seitensprung«, der die abgestorbene Gefühlswelt wieder neu beleben kann. Das, was immer noch so sehr als »Tragödie« bewertet wird, kann dann gerade das Farbspektrum ins Leben bringen, das bisher gefehlt hat und dessen Fehlen in der Alltagsroutine womöglich gar nicht wahrgenommen wurde, so wie ein Körperglied langsam und fast unbemerkt taub wird. Diese schleichende Gefühlsarmut ist so viel destruktiver als das Ausleben der sexuellen Bedürfnisse außerhalb des engen Rahmens der Zweierbeziehung es jemals sein kann.
Auf zur neuen Ordnung
Wenn wir uns heute ganz nüchtern den qualitativen und quantitativen Zustand der Ehen und Partnerbeziehungen anschauen, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass das westliche Eheideal in der gegenwärtigen Form überholt ist. Wurden im Jahre 1990 in Deutschland noch 516388 Ehen geschlossen und 154786 geschieden, so standen bereits im Jahre 2005 nur noch 388451 Eheschließungen 201693 Ehescheidungen gegenüber. Das starre und ängstliche Festhalten am »Bis dass der Tod euch scheidet« hat sehr viel Leid in unsere Familien und unsere Gesellschaft gebracht. Die Zeit ist jetzt reif für neue Modelle des Zusammenlebens und neue Formen der Beziehungen. Und diese können sich nur entwickeln, wenn die alten, starren Spielregeln von Liebe, Treue und Verantwortung aus dem Geiste und dem Bewusstsein einer kommenden Lebensordnung neu definiert werden, so wie sie bereits der deutsche Mystiker und Philosoph Jacob Böhme in einer großen Vision geschaut und als »Lilienzeit« der Evolution des Menschengeschlechts bezeichnet hat.
Maximilian Yehudi Schäfer
Tarotberater, Meditationslehrer und Stresscoach
»Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ewgen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.«
Novalis