KABBALA UND YOGA
Während Yoga in Europa und den USA boomt und die Yoga-Philosophie längst auch in seriösen Magazinen ihren festen Platz hat, ist die Kabbala noch eine Art Waisenkind in und wird gemeinhin mit Skepsis betrachtet. Und dies, obwohl viele Promis – Pop-Star Madonna steht hier an der Spitze – auf die Segnungen der Kabbala schwören und die kabbalistische Lehre mit Gewinn in ihren Alltag integriert haben. Doch so unterschiedlich die Herkunft und Handhabung dieser beiden Weisheitslehrenauch ist, sie haben viel gemeinsam, denn sie beschreiben den Weg zu innerer Ruhe und Gelassenheit - die Voraussetzung für eine bewusste Verbindung mit der göttlichen Welt. In der kabbalistischen Überlieferung wird dieser Weg durch den Lebensbaum, in der in der Vedanta-Lehre durch das Chakra-System dargestellt.
Das hebräische Wort „Kabbala“ wird mit „empfangen“ bzw. „Offenbarung“ übersetzt. In der kabbalistischen Lehre liegt die gesamte Struktur des Universums und damit auch die des Menschen verborgen, der als Mikrokosmos ein Abbild des Makrokosmos ist. Lange wurde die kabbalistische Lehre nur mündlich überliefert, bis sie schließlich durch die Bücher „Torah“ (586 -515 v. Chr.) den „Sohar“ (150 n. Chr.) die „Sepher Jezirah“ und „Bahir“ schriftlich festgehalten wurde. Der Ursprung dieser Texte lässt sich heute nicht mehr genau zurückverfolgen, und es existieren widersprüchliche Meinungen darüber.
Neben der mündlichen und schriftlichen Überlieferung der Kabbala gibt es die auf dem hebräischen Alphabet basierende Buchstaben-Kabbala und die praktische Kabbala, die sich damit befasst, das theoretische Wissen in die Tat umzusetzen.
Die Grundpfeiler kabbalistischer Spiritualität sind Debekut“ – das Anhangen an die Lehre und Kawwana – die Intention diese Lehre richtig zu leben und die Weisheit des Lebensbaumes anzuwenden, die darin besteht, den Weg von der irdischen in die göttliche Welt aufzuzeigen.
Berühmte Kabbalisten waren u. a. Abraham Abulafia, der im 13. Jahrhundert als Wanderlehrer in Europa wirkte und Mose de Leon (1240-1305), dem der „Sohar“ zugeschrieben wird.
Yoga-Philosphie
Wie in der kabbalistischen Tradition sind auch die Ursprünge des Yoga nicht mehr genau zu eruieren. Sie werden auf über 4000 Jahre zurückdatiert. Die wichtigsten Grundlagen der Yoga-Lehre sind in den Upanishaden, den Veden und den Yoga-Sutras des Patanjali festgehalten. Die vier Hauptpfade des Yoga – Karma, Bhakti, Raja und Jnana – haben jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, sollen aber alle zum gleichen Ziel führen – zur Befreiung vom Rad des Lebens und des Todes. Endziel ist, wie auch auf dem kabbalistischen Weg, das Einswerden mit der göttlichen Welt. Während die Kabbala jedoch ein eher mystischer Weg ist, ist der Yoga-Weg ein überwiegend wissenschaftlicher Weg. Die einzige Ausnahme stellt der Bakti-Yoga dar, der Weg der Liebe, der der mystischen Verzückung der Kabbalisten gleicht und durch vollkommene Hingabe an Gott gekennzeichnet ist.
Shakti und Shekinah
Während es auf dem Yoga-Weg darum geht, die Shakti-Kundalini zu erwecken, die im Muladhara-Chakra (Steißbein-Zentrum) schlummert und durch yogische Übungen in das Sahasrara-Chakra (Scheitel-Zentrum) befördert werden soll, sprechen die Kabbalisten davon, die Shekinah zu erwecken. Sie befindet sich im Lebensbaum, dem zentralen Symbol der Kabbala, in der untersten Sphäere – in der Sephira Malkuth. Folgt man dem spirituellen Weg der Kabbala – dazu gehören, Meditation, Gebet, Tanz, Zahlenmystik, Traumdeutung und die so genannte Pfadarbeit im Lebensbaum – steigt die göttliche Kraft Shekinah (man spricht auch von der „Gegenwart Gottes“) durch die Sephirot – die 10 Energiezentren des Lebensbaums – bis zur Sephira Kether hinauf und vereinigt sich dort mit ihrem „göttlichen Gemahl.
Dasselbe Bild findet sich auch innerhalb der rosenkreuzerischen und alchimistischen Tradition, wenn in einschlägigen Texten von der chymischen Hochzeit die Rede ist. Darunter versteht man die Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips bzw. von Geist und Materie, was zur „Erleuchtung“ führt. Anders ausgedrückt: Das in der Materie gefangene göttliche Bewusstsein muss vom Menschen durch bewusste Anstrengungen in der materiellen Welt in einem grobstofflichen Körper erfahren und zur Geburt gebracht werden. Es ist die Wiedergeburt aus Wasser und Geist von der auch Christus spricht.
Lebensbaum und Chakras
Der kabbalistische Lebensbaum ist ein Abbild des Schöpfungsvorgangs und verbindet die göttliche mit der irdischen Sphäre. Er besteht aus den 10 Sephirot – den Emanationen Gottes – und den 22 Pfaden, die diese Sephirot untereinander verbinden. Es existiert noch eine elfte Sephira namens Daath, die jedoch selten erwähnt wird, da sie als zu erhaben und unantastbar gilt. Um zu ihr zu gelangen, muss man den gesamten Lebensbaum mit all seinen Aufgaben durchlaufen und gemeistert haben. Die 7 Chakras des yogischen Systems stehen in enger Beziehung mit den Sefirot und beschreiben wie sie sieben unterschiedliche Bewusstseinsstufen.
Das Muladhara-Chakra entspricht Malkuth, dem so genannten Königreich. Muladhara verkörpert materielle Werte: Geld, Reichtum, Macht, Erfolg, Popularität. Malkuth, die unterste Sephira im Lebensbaum repräsentiert die Erde, die Materie. Von hier aus muss der Weg in die göttliche Welt angetreten werden.
Das Swadisthana-Chakra befindet sich in der Sakralregion und regiert die schöpferische und sexuelle Energie. Es entspricht der Sephira Jesod. Hier befinden sich die schöpferischen Kräfte, Imagination, Fantasie und Traumwelten. Entsprechend dem Zustand dieses Energiezentrums schaffen wir uns mit unseren Wünschen unsere Wirklichkeit.
Das Manipura-Chakra sitzt im Solarplexus. Es steuert das vegetative System, Vitalität und physische Energie, den Willen und entspricht den Sephirot Hod und Netzach. Während Hod Ordnung und Struktur repräsentiert, steht Netzach für die schöpferische Vorstellungskraft.
Das Anahata-Chakra auf der Höhe des Herzens ist das Zentrum der Liebe und des Mitgefühls. Im Lebensbaum entspricht es Tiferet, der 6. Emanation Gottes. Tiferet ist die Sphäre der Schönheit, der Milde und des Ausgleichs und steht in der Mitte des Lebensbaums.
Das Visuddha-Chakra im Halszentrum gilt als Vermittler zwischen Fühlen und Denken. Es ist auch das Zentrum der Sprache und Kommunikation. Die Sefirot Chesed und Geburah sind die Entsprechung im Lebensbaum. Chesed steht für Milde, Wohlwollen und Großzügigkeit, während Geburah die Sphäre der Strenge, des Kampfes und der Gerechtigkeit ist. Diese beiden Prinzipien sollen hier ausgeglichen werden.
Das Ajna-Chakra stellt die Verbindung zur geistigen Welt dar und ist Sitz der höheren Intuition. Chokmah und Binah, die 2. und 3. Sphäre verkörpern dies im Lebensbaum. Chokmah ist das Vaterprinzip und verkörpert höchste Weisheit. Binah, als mütterliches Prinzip, symbolisiert Verständnis, tätige Liebe. Das männliche und weibliche Prinzip soll hier vereinigt werden.
Das Sahasrara-Chakra gilt als Wohnstätte Shivas – des reinen Bewusstseins. Wenn Shiva und Shakti – die oberste und unterste Kraft – sich vereinigen, nennt man dies Erleuchtung. Im Lebensbaum entspricht dies Kether, der ersten Emanation, die Einheit, höchste Gotteskraft, das Ewige repräsentiert.
Bewusste Anstrengung
Die 10 Sephirot im Lebensbaum sind – wie die Chakras im Sushumna-Kanal in der Wirbelsäule – Energiezentren, die die verschiedenen Emanationen (Ausströmungen) Gottes symbolisieren. Die 22 Pfade, die die Sephirot miteinander verbinden, sind die Wege, die man gehen muss, um in das Reich Gottes – wie es die Kabbalisten nennen, zurückkehren zu können. Wenn man bewusst mit dem Lebensbaum arbeiten will, muss man dessen Energie „anzapfen“und die Kräfte der Sephira – der verschiedenen Bewusstseinsebenen – in sich einströmen lassen. Voraussetzung dafür ist einerseits „empfänglich“ zu werden, sich aber andererseits auch bewusst auf die Reise zu begeben und den Weg von Malkuth nach Kether entschlossen zu gehen. In der Bibel wird dieser Prozess in der Geschichte vom verlorenen Sohn, der wieder ins Vaterhaus zurückkehrt, symbolisch geschildert.
Bei diesem Gang zurück wird das Prinzip der kabbalistischen Involution und Evolution deutlich. Der Geist ergießt sich von Kether in einer festgelegten Reihenfolge bis nach Malkuth, der Sphäre, die den Menschen verkörpert. Die Reise zurück nach Kether – in die göttliche Welt – kann nur von der Erde aus angetreten werden. Dies ist die wichtigste Erkenntnis überhaupt! Und man kann auch keinen Schritt auslassen. Jedes Prinzip muss auf dem Weg der Evolution erkannt und integriert werden.
Im Yoga wird der Aufstieg wird der Aufstieg der Kundalini vom Muladhara-Chakra bis zum Sahasrara-Chakra beschrieben. Doch obwohl dies ein Pfad von unten nach oben zu sein scheint, ist das in Wirklichkeit nicht so, denn alle Chakras sind – wie auch alle Sephira – miteinander verbunden. Arbeitet man also am Basis-Chakra, aktiviert man damit gleichzeitig auch alle anderen Chakras. Dabei spielt im Yoga der Atem als Träger der göttlichen Kraft eine entscheidende Rolle. Er ist die „Straße“ durch die das Prana – die Lebensenergie - in den Chakras und im ganzen Körper fließt. Die Chakras und die Sephirot sind also Tore des Bewusstseins in denen die Kraft Gottes wirksam ist.
Landkarte der Seele
Die 22 Pfade der Evolution werden durch die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets symbolisiert, das als heilig gilt und sehr komplex ist. Jeder Pfad hat eine bestimmte Funktion und aktiviert die höheren Seelenkräfte. Wie man diese Pfade geht und welche Erfahrungen man dabei macht, ist individuell sehr verschieden. Tatsache ist, dass man sie beschreiten muss, wenn man sich spirituell entwickeln möchte. Indem man die Pfade geht und bereit ist, ihre Lektionen anzunehmen, wird man mit ihrer Kraft verbunden und gleichzeitig zum Kanal für diese höheren Kräfte.
Um ein Beispiel zu nennen: Der Pfad 13 (Jod) verbindet die Sephirot Tipheret und Chesed. Aus dem hebräischen Buchstaben Jod lässt sich ableiten, dass auf diesem Pfad Geduld erlernt werden soll und die Fähigkeit, Dinge reifen zu lassen. Dieses Wissen kann man sich zunächst theoretisch aneignen. Um den Lebensbaum aber in sich selbst zum Leben zu erwecken, muss man mit diesen Kräften in einen lebendigen Austausch treten, d. h. man muss selbst zu einem Lebensbaum – einem lebendigen Baum – werden, in dem diese Kräfte aktiv wirken und sich entfalten können.
Kabbalistische Gottesanrufung und Mantras
Für einen Yogi ist das Singen von Mantras ein selbstverständlicher Teil seiner spirituellen Praxis, um die in dem Mantra verborgene Kraft zu erwecken und durch die Klangschwingungen mit den dem Mantra zugeordneten Gottheiten bzw. dem universellen Geist verbunden zu werden.
Auch in der kabbalistischen Tradition wird intensiv mit Klängen bzw. Tönen gearbeitet, um spirituellen Fortschritt zu erzielen. Durch das Anrufen der heiligen Namen Gottes, die den verschiedenen Sephirot zugeordnet sind, werden die Kräfte der jeweiligen Sephirot aufgerufen und können sich in den dafür offenen Menschen einsenken. Es gibt verschiedene Rituale. Eine Möglichkeit ist, die Anrufung der Gottesnamen von oben nach unten durchzuführen. Der Gottesname für die unterste Sephira Malkuth ist „Adonai-Melek“, für die höchste Sephira Kether „Ehejeh“. Diese Gottesanrufung - wie auch das Singen von Mantras - sollte stets in größter Aufmerksamkeit und tiefer Hingabe erfolgen, denn sie setzen starke Kräfte frei.
In der Kabbala spielen die Engel eine große Rolle. Jeder Sephira ist ein Engel zugeordnet, darüber hinaus gibt es noch viele andere Engel, die in einer bestimmten Hierarchie entsprechend über die Geschicke der Menschen walten.
Die 10 Sephirot entsprechen dem 8-fachen Yoga-Pfad nach Patanjali:
Asanas (Körperhaltungen) = Malkut
Pratyahara (Sinne nach innen wenden) = Hod
Pranayama (Atemkontrolle) = Netzach
Niyama (Disziplin) = Geburah
Yama (Hingabe) = Chesed
Dharana (Kontemplation) = Binah
Dhyana (Meditation) = Chokmah
Samadhi (Erleuchtung) = Kether
Die drei höchsten Qualitäten der Vedanta-Lehre Sat (reines Sein), Cit (reines Bewusstsein) und Ananda (vollkommene Seligkeit) werden im Lebensbaum durch Chesed symbolisiert. Prakriti (Materie) und Purusha (Geist) sind in Geburah und Hod angesiedelt.
Ägyptisches Erbe - der Merkurstab
Dass das kabbalistische und yogische Wissen universell ist, wird auch am Symbol des ägyptischen Caducäus (Merkurstab) – einem einstigen Einweihungssymbol – deutlich. Er verkörpert die menschliche Wirbelsäule, in der ein Schatz verborgen ist, der vom Menschen selbst gehoben werden muss. Zwei Schlangen (männliche und weibliche Kraft) winden sich um einen Stab. Die Flügel über den beiden Schlangenköpfen deuten auf die Vereinigung und die befreite Seele hin. Hier finden sich auch das biblische Prinzip von Vater, Sohn und Heiligem Geist wieder. Im Alten Testament ist der Stab von Moses – der als einer der ersten Kabbalisten gilt – ein verschlüsselter Hinweis auf die magische Kraft in der menschlichen Wirbelsäule.
Herzlichst Marianne Scherer