Spiritualität und Bewusstsein: Befreiung vom Herdenbewusstsein 4.
von Martinus -
Atheismus und Materialismus sind auch eine Form von Herdenbewusstsein und Gewohnheitsdenken.
Christus hat der Menschheit den Weg fort vom Herdenbewusstsein und hin zu einer göttlichen und zugleich menschlichen Individualität gezeigt. Es war keine Herrenvolkmentalität, die er repräsentierte, und er hatte auch keine pharisäerhafte Freude daran, mehr als andere zu sein. Er sagte im Gegenteil, dass er gekommen war, um zu dienen und nicht sich dienen zu lassen. Aber er hatte keine Angst, seine Gedankenwelt zum Ausdruck zu bringen, obwohl sie anders war als die der Herde, die auf alten Traditionen, Dogmen und Gewohnheitsdenken basierte.
Er sagte „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand“. Eine solche Aussage war ein vollkommener Kontrast zu dem, was Gewohnheitsdenken und Sitte und Brauch war, und sie ist es noch.
Zwar bezeichnen sich die Menschen im Westen als Christen, aber ihr Christentum basiert in den meisten Fällen auf einem dogmatischen, blinden Glauben an die Vergebung der Sünden dadurch, das Christus den zornigen Gott durch sein Leiden und seinen Tod am Kreuz versöhnt hat.
Ein solches Christentum, von Kirchenvätern und Prälaten geschaffen, wurde zum Herdenbewusstsein und die Menschen haben unter der suggestiven Einwirkung einer kirchlichen Diktatur gestanden. Das sage ich nicht als Kritik, denn es hat nicht anders sein können. Nur auf diese Art und Weise konnte das Christentum ein Kulturfaktor im Verhältnis zur damaligen Entwicklungsstufe der Menschen werden.
Aber viele Menschen haben seitdem eine Entwicklung durchlaufen, die dazu geführt hat, dass die individuelle Denkfähigkeit und der Drang nach Logik eine immer größere Rolle spielen, und sie sind auf ganz natürliche Weise dem Glauben an die alten Dogmen entwachsen. Sie sind vielleicht eine Zeitlang Atheisten und Materialisten, aber ein solcher Gedankengang ist auch eine Art Herdenbewusstsein und Gewohnheitsdenken.
Man wandert in kleinen lokalen Gedankenbahnen und ist mit den Ereignissen des Alltags beschäftigt, ohne etwas von ihrer Bedeutung in einem größeren Zusammenhang zu ahnen. Aber kein Mensch kann auf Dauer in einem solchen Zustand leben. Das Leben selbst wird die Menschen wachrütteln, und sie werden zu Suchenden und sehnen sich nach einer Lebensanschauung, die sie nicht in diese oder jene Zelle einschließt, sondern die sie wirklich zu freien Menschen machen kann.
Die Geisteswissenschaft ist die Wissenschaft der Liebe.
Die Geisteswissenschaft wird zu einem Faktor in der erdenmenschlichen Kultur werden, der in der Zukunft eine außerordentlich große Bedeutung bekommen wird, da sie den einzelnen Menschen helfen kann, vom Herdenbewusstsein wegzukommen und sie zu einer individuellen Denkfähigkeit hinzuführen.
Viele Menschen glauben zwar, dass die Geisteswissenschaft nur eine neue religiöse Sekte oder eine Vereinigung ist, bei der man Mitglied werden kann. Aber das ist ein Missverständnis.
Geisteswissenschaft kann nicht durch Propaganda oder suggestive Beeinflussung verbreitet werden. Sie kann von den Menschen angenommen werden, die Suchende geworden sind und in engeren Kontakt mit den ewigen Gesetzen des Lebens kommen wollen. Ein solcher Kontakt kann nicht durch eine Mitgliedschaft erreicht werden, nicht einmal durch Studien, es sei denn, diese Studien werden mit dem Praktizieren von Nächstenliebe und Toleranz verbunden.
Der Kern der Geisteswissenschaft ist derselbe, den man in den höheren Religionen findet – die Liebesbotschaft. Deshalb wird die Geisteswissenschaft die Religionen nicht verdrängen, im Gegenteil, durch sie wird man das begreifen, was die Religionen den Menschen durch die Gefühle gegeben haben.
Im Hinblick auf das Christentum wird man verstehen, welch große Bedeutung es hatte, dass Christus sagte: „Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir“. Das Kreuz des Einzelnen sind die Beschwernisse und Leiden, die er durchmachen muss, wenn er sich von den leichten Lösungen, der Selbstbehauptung und dem Gewohnheitsdenken des Herdenbewusstseins entfernt.
Wenn der Mensch begonnen hat, sich von all dem, was Sitte und Brauch ist, zu entfernen, wird er leicht das Gefühl haben, dass er mit seinen Gedanken und Wünschen allein dasteht. Aber wenn er die Gesetze und Kräfte kennenlernt, die hinter der Macht des Gebets stehen, und es versteht, sie zu gebrauchen, wird er merken, dass er niemals allein ist, sondern dass starke geistige Kräfte hinter jener Verwandlung der Erde und der Menschheit stehen, an der er nun als bewusster Mitarbeiter beteiligt ist.
Wird eine solche Lebenseinstellung und Mentalität nicht auch zu Herdenbewusstsein und Massenpsychose werden? Das wird sie nicht. Indem man die Geisteswissenschaft zu einem Teil seines Lebens macht, entwickelt man nach und nach Zentren in seinem Bewusstsein, durch die die individuelle Schöpfungsfähigkeit eine viel größere Entfaltung zugunsten der Ganzheit bekommt; man wird ein göttliches Werkzeug in der Schaffung des Friedens auf Erden.
Aber jeder muss durch sein Gethsemane und seine Kreuzigung, bevor es möglich ist, die Auferstehung zu erleben, die darin besteht, eins mit dem Vater und ein göttlicher Lebenskünstler zu werden, der mit seiner Schöpfungsfähigkeit und seiner Liebe dazu beiträgt, die Erde in das zu verwandeln, was Christus das „Himmelreich“ nannte, d.h. eine Welt, die nicht vom tierischen Herdenbewusstsein dominiert wird, sondern von menschlicher Liebe und Lebenskunst.
Herzlichst Martinus
Aus einem Vortrag vom 21. Juni 1951. Bearbeitet von Mogens Møller und gutgeheißen von Martinus
Zum ersten Mal im dänischen Kosmos Nr. 13, 1973 mit dem Titel: "Frigørelse af flokbevidstheden" erschienen.
Übersetzung: Christa Rickus, EG
© Martinus Institut 1981 www.martinus.dk