Leidenserfahrung oder die wahre Liebe und ihre Möglichkeiten.
von Martinus -
Die wahre Liebe gibt den Menschen die Möglichkeit, mit der Intuitionsenergie, der allesdurchdringenden Kraft des Weltalls, zu korrespondieren.
Die großen Weisen, die hier auf Erden gelebt haben, haben jeder auf seine Weise versucht, die Menschen über jene Liebe zu belehren, die die Erfüllung aller Gesetze ist, "das eine, was nottut", wie Christus es nannte. Sie ist es, die sowohl Elektronen als auch Himmelskörper im Mikro- und Makrokosmos in ihren Bahnen hält, und sie ist es, die Friede auf Erden schaffen wird, wenn die Menschen sich mit ihr einsmachen wollen.
Durch ihre Gefühle haben sie etwas von dieser Liebe vernehmen können, und sie haben eine Zeitlang ergriffen werden und Begeisterung fühlen können. Aber Gefühle ohne regulierende Intelligenz können leicht die Menschen auf Irrwege führen. Deshalb sieht man auch, wie die Religionen, wenn die Geistlichen von Liebe reden, gleichzeitig im Dienst der Kriege wie auch zu fanatischen Verfolgungen, zu Terror und Machtmissbrauch verwendet werden konnten. Die wahre Liebe ist nicht nur Gefühl, sondern intellektualisiertes Gefühl, das nicht auf die Irrwege explosiver Kräfte führt, sondern den Menschen im Gegenteil durch ihren harmonischen Zustand die Möglichkeit zur Korrespondenz mit der Intuitionsenergie gibt, der allesdurchdringenden Kraft des Weltalls oder der Gottheit, durch die das Eins sein mit dem "Vater" und der Ewigkeit erlebt wird.
Es ist deshalb nicht so sonderbar, dass die entwickeltsten Menschen es zu ihrer Mission gemacht haben, den Menschen über diese Liebe zu berichten, obwohl sie wussten, dass die Menschen nur ein ganz klein wenig dessen verstehen würden, was sie ihnen erzählten. Nichtsdestoweniger hat die wahre Liebe nach und nach tatsächlich auf vielerlei Weise die menschliche Gesellschaft durchdrungen. Die Tätigkeiten des Roten Kreuzes in Kriegs- und Friedenszeiten, die Altersversorgung, Invalidenrenten und viele andere Formen von Hilfe für bedürftige Menschen sind ein kleiner Anfang zu einer wirklich menschlichen Gesellschaft. In der kommenden Gesellschaft wird man so weit kommen, die Ursachen zu allem Elend zu entfernen, statt wie jetzt die Wirkungen zu flicken. Aber es wird seine Zeit dauern, ehe die Menschheit so weit kommt. Was sind nun die Ursachen zu dem menschlichen Elend - oder besser die Ursache? Denn es gibt nur eine: die mangelnde Liebe.
Große Leidenserfahrungen schaffen Liebe.
Dass diese Liebe nicht ein dominierender Faktor in der erdenmenschlichen Gesellschaft ist, kann niemandem vorgeworfen werden. Sie muss nach und nach im Sinn des einzelnen Menschen durch die Erfahrungen des Kontrastes zur Liebe hervorwachsen, die die Menschen in so reichem Ausmaß erleben. Man muss sich nach der Liebe sehnen, bevor sie hervorwachsen kann. Eine solche Sehnsucht gibt es heute im Sinne von Millionen von Menschen, ja, sie kann geradezu als ein Hunger nach Liebe bezeichnet werden. Jeder natürliche Hunger, der im Bewusstsein der Lebewesen entsteht, birgt auch die Möglichkeit in sich, allmählich seine Sättigung zu finden.
Aber es gibt ja Tausende von Menschen, die vor Hunger sterben! Ja, das stimmt - noch - in dieser Welt! Und es ist in Wirklichkeit der Liebeshunger, an dem sie sterben. Alle Menschen, die in Gaskammern und Konzentrationslagern starben, ja all die Menschen, die während der Kriege getötet wurden, starben an Mangel von Liebe. Die "Liebesnot" verheert die Welt der Erdenmenschen. Wenn jedoch die Möglichkeit zu einer Sättigung dieses Hungers existiert, weshalb entfaltet sie sich dann nicht? Weil das durch eine gradweise Entwicklung vor sich gehen muss, es kann auf keine andere Weise als durch die Menschen selbst geschehen.
Die Toten sind nicht tot, sondern sie kehren mit Erfahrungen von früheren Leben in ihrem Unterbewusstsein zurück, und die Menschen, die den größten Drang zum Helfen zeigen, die Frieden schaffen und Nächstenliebe zeigen, sind gerade jene Menschen, die früher selbst große Leidenserfahrungen gemacht haben. Und weshalb haben sie nun diese Erfahrungen gemacht? Weil sie ernten mussten, was sie selbst früher an Lieblosigkeit, Rache, Hass, Eifersucht und Machtgier gesät hatten. Wenn es scheinbar in der Welt heute schlimmer aussieht denn je zuvor, dann deshalb, weil die Religionen, die früher mit ihrer Autorität und Suggestion vermochten, die lieblosen Kräfte etwas zu dämmen, dabei sind, ihre Macht über die Menschen zu verlieren.
Die Menschen leben nicht mehr so sehr auf der Basis von Gefühlen, sie haben begonnen, immer mehr nachzudenken, auch über die Religionen, die sie in vielen Gebieten als unlogisch und nicht im Zusammenklang mit jener Liebe finden, die gepredigt wird. Die Wissenschaft, die die Autorität unserer Zeit geworden ist, befasst sich nicht mit Liebe, selbst wenn sie auf vielerlei Weise durch den Nutzen, die sie schafft, ein Ausdruck für die Liebe ist. Aber sie wird ja auch im Dienste des gegensätzlichen Prinzips gebraucht. Sie ist neutral und konzentriert sich auf die Bewegungen der Materie. Der Zustand der Menschheit in unserer Zeit ist geprägt durch Ungleichgewicht, durch Mangel an Balance, weil man keinen festen Haltepunkt im Dasein hat, keinen Glauben, keine Hoffnung und keine Liebe.
Herzlichst Martinus.
Zum ersten Mal im dänischen Kosmos Nr. 6, 1972 mit dem Titel: " Menneskehedens kærlighedshunger" erschienen.
(Vortrag im Martinus Institut, Sonntag den 9. Januar 1949, bearbeitet von Mogens Möller)
Übers. Karin Linde
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