Geschichten für die Seele und das Herz - Was ist Liebe?
von Kerstin Werner -
„Was ist Liebe?“, fragte der vierjährige Kevin seinen Vater.
„Ach, mein Sohn, seitdem deine Mama und ich uns getrennt haben, kann ich dir auf deine Frage keine Antwort mehr geben. Ich dachte, DAS sei Liebe, aber da habe ich mich wohl getäuscht.“
Diese Antwort reichte ihm nicht und so fragte er auch seine Mutter. Aber sie warf ihm bloß ein schnippiges „Frag’ deinen Vater“ hin.
Als Kevin in den Kindergarten kam, fragte er seine freundliche Kindergärtnerin, ob sie wisse, was Liebe sei. Sie kam aus Russland und sprach noch kein besonders gutes Deutsch.
„Kevin, kannst du Frage nochmal wiederholen bitte.“
Er tat es.
„Weißt du Kevin, Liebe ist wie Geschenk“, begann sie nachdenklich, „aber wenn du wartest, bis du groß bist, dann wirst du automatisch irgendwann erfahren es.“
„Kann man Liebe auch kaufen?“
Er sah, dass die Kindergärtnerin Tränen in den Augen hatte.
„Ja, manche denken auch, dass sie ist käuflich“, sagte sie leise.
Egal wen Kevin auch immer fragte, er bekam keine zufriedenstellende Antwort. Verdammt, irgendjemand musste doch wissen, was Liebe ist.
Die Schulzeit begann. Er war wirklich ein braver Schüler. Nachmittags machte er seine Hausaufgaben zusammen mit Hanna, seiner Tagesmutter, denn Papa musste ja arbeiten.
Als er sie eines Tages fragte, ob sie wisse, was Liebe sei, sagte sie: „Ja, ich weiß, was Liebe ist.“
Kevin wurde hellhörig
„Liebe kannst du nur bekommen, wenn du auch Liebe gibst.“
„Heißt das, um Liebe zu erfahren, brauche ich immer jemand anderen?“, fragte Kevin irritiert.
„Ja, so ist das leider.“
„Wie fühlt sich das denn an?“
„Wenn du Liebe bekommst, ist das toll. Dein Herz wird dann ganz rot und warm.“.
„Und was passiert, wenn ich alleine bin?“
„Na, dann wird das Herz farblos und kalt.“
Und da beschloss Kevin, sich auf die Suche zu machen. Er wollte Liebe finden. Damit auch sein Herz so schön rot und warm sein konnte.
Als er in die Pubertät kam, plagte ihn die Akne. Immer wenn er in den Spiegel schaute, erfasste ihn Kummer. ‚So wird dich nie jemand lieben‘ grübelte er. Sogar Papa sagte schon, dass die Pickel schrecklich aussehen. Und so blieb Kevin lange Zeit ohne Liebe.
Nach seiner Lehre als Schreiner, in der auch die Pickel endlich verschwanden, arbeitete er als Geselle. Er zog von zu Hause aus, um seine eigenen Erfahrungen zu sammeln. Wie es war, eine Wohnung zu haben und auf eigenen Beinen zu stehen. Außerdem besuchte er Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung und entfaltete sich immer mehr.
Innerlich und äußerlich gereift lernte Kevin mit 36 Jahren Maike kennen. Sie hatte eine Werbung der Schreinerei gelesen, in der Kevin tätig war, und beschloss dort anzurufen, weil sie sich einen extravaganten braunen Holztisch für das Wohnzimmer schreinern lassen wollte.
Maike war eine bildhübsche junge Frau. Sie war so anders als andere Dreißigjährige. Sie plapperte nicht dümmlich drauf los, sondern dachte vorher nach, was sie sagen wollte. Weder interessierte sie der Konsumrausch, der andere Frauen ihres Alters ergriff, noch das exzessive Partymachen bis in die Morgenstunden, nach dem Motto: Wer ist die Schönste im ganzen Land! Maike war selbstbewusst genug, sie brauchte derartige Bestätigungen überhaupt nicht.
Kevin durfte für sie den Holztisch anfertigen. Von Anfang an war eine besondere Chemie zwischen den beiden. Sie trafen sich öfter. Erst beruflich, dann aber auch privat. Allmählich fing es an, zwischen den beiden zu knistern. Die Treffen wurden länger, vertrauter und die Nähe wuchs. Kevin hüpfte jedes Mal das Herz, wenn sie sich trafen. Bald merkte er, dass er sich in Maike verliebt hatte.
Eines Abends saßen sie auf der Veranda. Kevin hielt zärtlich Maikes Hand.
„Darf ich dich mal etwas fragen, Maike?“
„Aber klar doch“, entgegnete sie und küsste ihn sanft auf den Mund.
„Bisher konnte mir das niemand richtig beantworten, aber ich glaube, bei dir ist die Frage in guten Händen.“
Er macht eine kleine Pause, atmete tief durch. Dann fragte er: „Weißt du, was Liebe ist?“
Maike strahlte ihn verliebt an.
„Warte mal, ich werde dir etwas holen gehen.“
Sie stand auf, verschwand für kurze Zeit im Haus und kam mit einer braunen Holzkiste wieder. Es war eine Art Schatztruhe. Sie musste erst einmal den Staub abwischen und gab sie dann Kevin, der die Kiste auf seinen Schoß stellte.
„Diese Kiste hat mir mein Opa geschenkt, als ich sechs Jahre alt war. Er sagte mir, dass sich darin ein Schatz befinden würde. Und zwar der Schatz der Liebe.“
Kevin wurde nervös. Schließlich ahnte er, dass er nun die Antwort bekommen würde, nach der er seit Jahren suchte. Er durfte die Kiste nun öffnen. Sie knirschte in den alten Scharnieren. Es kam zuerst nur silbernes Papier zum Vorschein. Behutsam legte er es beiseite und kramte tiefer. Er wühlte sich durch die Styropor-Teilchen, die ihn etwas Zerbrechliches erahnen ließen. Dann stieß er auf eine ovale Platte. Als er sie herausnahm, sah er, dass es sich um einen Spiegel, in Stein gefasst, handelte. Kevin blickte hinein und sah sein Gesicht.
„Mein Opa sagte mir damals: Kind, du trägst die Liebe in dir“, erzählte Maike, während sie Kevin betrachtete, „dein Herz strahlt in den schönsten Farben und du darfst dich selbst lieben – genauso wie du bist, denn du bist etwas Besonderes. Und du wirst sehen, wenn du dich selbst liebst, dann lieben dich auch die anderen. Jeder, der sich selbst liebt, strahlt. Du wirst zu einem Menschenmagnet, weil du dadurch deinen Mitmenschen mit Liebe begegnest, denn … die Liebe ist in dir. Denk immer daran, mein Kind.“
Maike verstummte und lehnte den Kopf an Kevins Schulter. Nun sah er neben seinem Gesicht auch ihres im Spiegel. Er lächelte.
@Kerstin Werner aus dem Buch „Gefühle zeigen erlaubt“
Alles Liebe