Umgang mit Schmerz
von Gerd Bodhi Ziegler -
„Euer Schmerz zerbricht die Schale, die euer Verstehen umschließt. So wie der Kern einer Frucht aufbrechen muss, damit sein Herz die Sonne sieht, so müsst ihr den Schmerz kennen lernen.“ Khalil Gibran
Wenn wir uns tief der Liebe öffnen, werden wir früher oder später auch mit emotionalen Schmerzen in Berührung kommen. Liebe ist die stärkste heilende Kraft und bringt alle alten Verletzungen ans Licht. Wenn wir uns bewusst sind, dass die Partnerin den Schmerz nicht verursacht, sondern nur reaktiviert, können wir lernen, ganz präsent und offen zu bleiben. So können unerlöste Themen bis hin zur Ur-Wunde durch unsere Fähigkeit, uns selbst zu begegnen, erkannt, gefühlt und befreit werden.
Unsere Bereitschaft und Fähigkeit, wahrhaft zu lieben, zeigt sich sehr deutlich in der Art, wie wir mit dem intensiven Schmerz unserer Liebeswunden umgehen. In der Regel versuchen wir, schmerzhafte Erfahrungen zu vermeiden. Wir neigen dazu, unangenehme Empfindungen reflexartig entweder zu ignorieren und zu verdrängen oder sie sofort zurückzuweisen und zu bekämpfen. In beiden Fällen zeigt sich unsere ängstliche und ablehnende Haltung als Trennung. Sie drückt sich aus in einem vehementen „Das will ich nicht erleben!“ Wir weisen damit das zurück, was unsere Seele für unser Wachstum und für unsere Heilung und Ganzwerdung gewählt hat.
Doch jedes Mal, wenn wir diesem Nein nachgeben, trennen wir uns ein Stück weiter von uns selbst. Wir spalten Teile unseres inneren Erlebens ab und weigern uns, wirklich hinzuschauen und zu fühlen. So vermeiden wir tiefe und echte Selbstbegegnung. Mit dieser Gewohnheit, haben wir wahrscheinlich bereits als Kinder begonnen, sobald etwas für uns bedrohlich oder gar unerträglich erschien. Bei fast allen Menschen haben sich dadurch viele Schichten unverarbeiteter Erfahrungen angehäuft.
Dies macht es anfangs oft besonders schwer, sich selbst zu begegnen. Auf der Suche nach dem inneren Licht tauchen zuerst die abgelagerten Schatten auf – und dies kann erschreckend und bedrohlich sein. Dann laufen die meisten Menschen lieber vor sich selbst davon, beklagen sich über die Schwächen und Fehler ihrer Partner und flüchten sich in Selbstmitleid, Zerstreuung oder Depression.
Doch wenn die Seele für einen weiteren Entwicklungsschritt bereit ist, wählt sie mitunter drastische Maßnahmen. Diese zwingen dann einen Menschen geradezu, innezuhalten und sich der Wahrheit zu stellen. Das können ernsthafte Krankheiten, schmerzhafte Trennungen, tragische Unfälle und Verluste oder andere existenzielle Lebenskrisen sein. So zieht unsere innere Weisheit die Notbremse.
Wir können also bereitwillig, in freiwilliger Intensität und freudvoll wachsen oder durch Leiden erschüttert und aufgerüttelt werden. In besonders intensiven Zeiten unseres Lebens kann sogar beides ineinander fließen. Sobald unsere Liebe zu uns selbst und unserer essenziellen Wahrheit groß genug ist, werden wir die Bereitschaft, Kraft und Entschlossenheit einbringen, unseren Schatten zu begegnen. Wir sind dann bereit, auch dem Heilungsschmerz alter Wunden bereitwillig Raum zu geben.
Wenn Schmerz durch Verletzungen in der menschlichen Liebe ausgelöst wird, erleben wir dies in der Regel als überwältigend und grenzenlos. So weit wie möglich und bereitwillig fühlend offen zu bleiben, wenn uns einen solch tiefer Schmerz überwältigt, kann uns Einweihungen in neue Dimensionen unserer bedingungsfreien Liebeskraft schenken. Wenn es uns gelingt, mitten in einem schier unerträglich erscheinenden Schmerzes ganz präsent und bedingungslos offen zu sein, kann die vorhandene Intensität sich plötzlich und unerwartet in einen ausgedehnten Raum gnadenvoller Befreiung und tiefen Friedens verwandeln. Darin offenbart sich uns die Grenzenlosigkeit und Unzerstörbarkeit unseres wahren Seins, das pure Liebe, Freiheit und Glückseligkeit ist.
Um unsere emotionalen Wunden bewusst wahrnehmen und heilen zu können, brauchen wir unsere Liebespartner genau so, wie sie sind. Durch sie erhalten wir immer wieder die Gelegenheit, in der äußersten Intensität unserer Schmerzen und Ängste offen zu bleiben. Ist genügend Nähe und Vertrauen vorhanden, kann es auch wunderbar sein, wenn wir uns damit dem anderen zeigen können, ohne anzugreifen oder zu beschuldigen.
Erst dann, wenn wir die volle Verantwortung für unsere inneren Wunden übernehmen, können wir klar und frei entscheiden, ob ein gemeinsamer Weg auch weiterhin stimmig und für beide wünschenswert ist. Unser Zugang zur eigenen inneren Wahrheit braucht zuallererst den fühlenden, achtsamen und wertschätzenden Umgang mit uns selbst. Dies ist auch und vor allem dann wichtig, wenn wir mit grenzenlosem Liebesschmerz in Berührung kommen. Die Bereitschaft zu tiefer Selbstbegegnung ist eine Voraussetzung für echte Selbstliebe und Selbsterkenntnis, aus denen unser Liebesglück erwächst!
Der Text ist ein Auszug aus meinem aktuellen Buch „Wer liebt hat alles“.
Herzlichst
Gerd Bodhi Ziegler
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