ESSENZ-Arbeit: Jenseits von konventioneller Therapie
von Gerd Bodhi Ziegler -
Der Begriff »Therapie« ist vielfach negativ belastet. Viele Menschen suchen therapeutische Hilfe, weil sie vor unüberwindbar erscheinenden Problemen stehen oder an belastenden Symptomen leiden. Doch konventionelle Therapie, die sich lediglich mit der Bewältigung von Problemen oder Symptomen befasst, hilft den betroffenen Menschen nicht wirklich - selbst wenn es hin und wieder gelingt, ein Leiden zu verringern.
Ich möchte in diesem Zusammenhang das Beispiel eines jungen Mannes anführen, der seit seiner frühesten Kindheit an einer Katzenphobie litt. Er hatte jahrelange, erfolglose analytische und verhaltenstherapeutische Behandlungen hinter sich. Als er in eine meiner Seminargruppen kam, versetzte ihn gleich am ersten Tag eine kleine Katze, die sich im Zentrum befand, in Panik. Im Verlauf der siebentägigen Gruppenprozesse wurde sehr bald deutlich, was sich hinter seiner Furcht vor Katzen verbarg: eine geradezu grenzenlose Angst vor Nähe und Zärtlichkeit, vor seiner eigenen Weichheit, seinem Anlehnungsbedürfnis.
Gegen Ende des Seminars sah man ihn mit der Katze auf dem Schoß, oft umringt von mehreren Teilnehmerinnen. Er hatte nicht nur seine Katzenphobie hinter sich gelassen, sondern - was viel wichtiger war - sich mit seiner Angst vor Zärtlichkeit, Nähe und Liebe auseinandergesetzt und sie verstanden. Dies gab ihm die Freiheit, auf neue Weise mit seiner Umgebung, und auch speziell mit Frauen, in Beziehung zu treten.
Solange sich eine konventionelle Therapie mit seinem »Problem« befasste, also problemorientiert vorging, wurde diesen Symptomen immer wieder neue Energie zugeführt, was sie letztlich verstärkte und erhärtete. In dem Augenblick, in dem der Fokus auf sein Potential und seine wahren Bedürfnisse gerichtet wurde, war der »Krankheit« ihre Energie entzogen.
Die therapeutische Nutzbarmachung der Öffnung für erweitertes Bewusstsein nennen wir ESSENZ-Arbeit. Ihr liegt die Erfahrung zugrunde, dass in uns Kräfte schlummern, die durch Licht, Liebe und Freude erweckt werden können.
Unter ESSENZ-Arbeit fasse ich somit all jene Ansätze der Bewusstseinsarbeit zusammen, deren Zugangsweisen und Grundsätze von dem Wissen um das unbegrenzte Potential, das in jedem Menschen angelegt ist, getragen werden. Diese Möglichkeiten in jedem von uns optimal zu entfalten, ist das Ziel einer Selbsterfahrung, die weit über herkömmliche Therapien hinausführt.
Jede Schwierigkeit, vor die wir uns gestellt sehen, trägt ein besonderes Geschenk, die Möglichkeit zur Bewusstwerdung in sich. Sind wir nur daran interessiert, die Symptome eines Problems zu beseitigen, verpassen wir entscheidende Lernerfahrungen.
Der Wunsch, uns verändern zu wollen,ist im Grunde nichts anderes als der alte Kampf gegen uns selbst. Er ist die Fortsetzung früherer Lebenserfahrungen, die wir als Kleinkind machten, als unser soziales Umfeld uns nach seinen Erfahrungen zu prägen versuchte: »So, wie du bist, wirst du nicht akzeptiert.« »Um geliebt zu werden (das heißt, um zu überleben), musst du die Erwartungen anderer erfüllen, dich verbessern, etwas Besonderes leisten.« »Liebe ist grundsätzlich an Bedingungen geknüpft, muss verdient und erkämpft werden, fordert Verzicht und Anpassung.«
Diese Grunderfahrungen, die sich später in solchen oder ähnlichen Glaubenssystemen manifestieren, macht jedes Kind mehr oder weniger, selbst in einem noch so wohlmeinenden Sozialisationsfeld. Wir können bei uns selbst beobachten, wie uns diese, einst prägenden Erfahrungen heute noch beeinflussen, insbesondere in Beziehungen und im Beruf.
Sowohl die Absicht eines konventionellen Therapeuten, seinen Klienten verändern zu wollen, als auch die Vorstellung des Klienten, er müsse sich selbst und sein Leben »verbessern«, wurzeln in jenem frühkindlichen Erleben, in seinem So-Sein nicht angenommen und geliebt zu werden. Diese Art von Therapie kann niemals hilfreich und befreiend wirken, denn sie vertieft die Unmündigkeit und Abhängigkeit des Rat und Hilfe Suchenden.
Sie ist eine entwürdigende Strategie, die nach einer Seite hin erstarrt ist. Der Klient soll geheilt, umstrukturiert, geformt werden – der Therapeut steht außerhalb. Was fehlt, ist der Prozess, die Gegenseitigkeit, die Auseinandersetzung.
Die traditionellen Therapieformen sind geprägt vom Idealbild eines »normalen«, »gesunden«, angepassten« Menschen. Alles, was beim Klienten von dieser Norm abweicht, gehört zum »Krankheitsbild», das es möglichst präzise zu diagnostizieren und zu behandeln gilt.
Das Therapieziel besteht darin, Menschen psychisch zu »heilen«, sie umzugestalten, wieder einzugliedern und gesellschaftlich funktionstüchtig zu machen. Diese klassischen Therapien schließen in der Regel dort an, wo Elternhaus, Kirche und Schule »versagt« haben, nämlich bei der Herstellung des »normalen«, »gesellschaftstüchtigen« Menschen, der sich mehr oder weniger in einem Zustand des Nichtbewusstseins, des Schlafens befindet.
ESSENZ-Arbeit zielt darauf ab, den Menschen zu mehr Lebendigkeit, das heißt, zu mehr Kontakt, Spontaneität, Kreativität, Emotionalität und damit zu mehr Bewusstheit, Befriedigung, Differenzierungsvermögen und Selbstverantwortung zu befähigen.Wir haben uns auf dieser Erde inkarniert, um bestimmte Lernerfahrungen zu machen und besondere Aufgaben zu übernehmen. Es liegt in unserer persönlichen Verantwortung, dieses höchste und letztendliche Ziel zu entdecken und mit Leben zu erfüllen.
Leiden, Unzufriedenheit und Frustration entstehen immer aus der bewussten oder unbewussten Weigerung, die eigene, einzigartige Lebensaufgabe zu meistern – aus dem Widerstand gegen das was ist. Wirkliches Glück und echte Befriedigung finden wir nur dann, wenn wir unserem Potential, das wie ein Same in uns schlummert, die richtige Nahrung und die erforderlichen Wachstumsbedingungen gewähren. Dies ist die größte (und einzige) Verantwortung, die jeder für sich selbst und gegenüber seiner Umwelt trägt.
ESSENZ-Arbeit ist nicht in erster Linie um Veränderung oder Beseitigung des »Negativen« bemüht. Ihr Ziel beschränkt sich nicht darauf, ein Problem loszuwerden, sondern es als einen Aspekt unserer Gesamtstruktur zu verstehen.
Daraus erwächst Heilung im Sinne von Ganz- oder Vollständigwerden, nicht im Sinne von Kurieren von Fehlern und Wunden. Im Vordergrund steht nicht länger die Beseitigung von Symptomen und als negativ empfundenen Charaktereigenschaften, sondern alles transformierende Erfahrungen ganzheitlicher Öffnung.
Wir finden dadurch Zugang zu einer inneren Quelle, aus der uns alles zufließt, was wir zum Leben, zum Wachsen zur Heilung, zur Erkenntnis und zur Orientierung brauchen. Wir müssen uns nicht länger mit den Ängsten, Zweifeln und Schatten der Vergangenheit identifizieren. Es ist nicht so, dass diese jetzt plötzlich nicht mehr auftauchen würden.
O doch! Solange wir uns in der Dualität bewegen, werden sich immer wieder mächtig und massiv erheben. Doch hat sich unser Umgang mit diesen Schattenkräften grundlegend verändert. Wir werden zunehmend in der Lage sein, sie als das zu erkennen, was sie sind: als Illusionen aus dem Bewusstsein der Trennung, die nicht zu verwechseln sind mit der Wahrheit und dem Licht unserer ESSENZ.
Allein diese Ausrichtung auf das Wesentliche, das Göttliche in uns, gibt unserem Weg ins Licht, unserer Arbeit an unserer Selbsterkenntnis eine andere Färbung, einen absolut neuen Geschmack. Freude tritt anstelle von Schuldeinlösung, Liebe anstelle von Furchtsamkeit, Loslassen anstelle von Kampf, Staunen und Entdecken anstelle von Analysieren.
Der Weg der Freude und des Selbstkontakts lädt ein zu einer neuen Art der Selbstfindung, jenseits von Therapie im herkömmlichen Sinn. Wir wagen mutig und entschlossen einen Schritt ins Licht. Wir arbeiten nicht mehr mühsam an den Vorbedingungen für Glück und Erfüllung, sondern stellen uns dem Licht, dem Wesen von Freude direkt.
Wenn wir nach und nach fähig werden, uns dieser unserer Wahrheit ganz einfach hinzugeben,sie bewusst zu erfahren und als die höchste Realität anzuerkennen, werden von dieser Grundeinstellung aus all unsere Lebensprobleme im richtigen Licht, in den richtigen Proportionen erscheinen und sich durch zunehmende Erkenntnis wie von selbst auflösen. Nicht indem wir sie bekämpfen und mühsam durcharbeiten, sondern indem wir sie immer wieder dem Licht Öffnen und ihre Klärung dem Licht anvertrauen.
Der Text ist ein bearbeiteter Auszug aus meinem Buch „Vision der Freude“ (erschienen 1992).
Herzlichst
Gerd Bodhi Ziegler
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