Wüstengeheimnisse
Lenis Aufenthalt in der Wüste Zentralaustraliens dauerte zwei Jahre. Die “Central Reserve” grenzte an die bekannte Giles Weather Station, die keine 50 km Luftlinie von ihrem Camp entfernt war. Sie war als Supervisorin, ihr Ehemann Johnny als Techniker von der Regierung eingestellt. Die Central Reserve war noch einiges der wenigen Reservate, wo Schwarze immerhin in ihrem eignen Land leben durften. Doch auch hier zwangsangesiedelt in Fußweite um die zentrale Station aus einigen Baracken und Wohnwagen. Warakurna heißt dieser Fleck, wird als Stadt verwaltet, obwohl es auch heute kaum mehr als ein Lager ist.
Lenis Berichte sind ernüchternd, denn die Menschen waren in der eigenen Heimat entwurzelt. Wanderverbot, Arbeitslosengeld, Alkohol, Weißmehl- und Zuckerkontingente der Regierung verhinderten das altgewohnte autonome und gesunde Leben des Stammes. Leni und Johnny stiegen ein (oder aus) auf die Seite der Schwarzen.
Dafür wuchs das Vertrauen und die Möglichkeit an den Resten des Stammeslebens teil zu nehmen.
Die Aborigines lebten in Buschhütten. Die Baracken, die die Verwaltung ihnen gebaut hatte, dienten als Holzquelle, solange noch Fußböden heraus gerissen werden konnten. Bei starkem Regen flüchtete man sich schon mal unter die verfallenden Veranden der Häuser, aber die Lehmkuhlen mit Zweigen überdeckt, blieben das vertraute Ambiente der Menschen. In so einer, etwas größeren Buschhütte war Johnny eines nachts eingeladen. Ein Ältester hatte ihn geheimnisvoll gelockt, raunte mit leiser Stimme, der Hexendoktor sei da, der einen Kranken heilen sollte. Johnny sollte, als Vertrauensperson und neutraler Zeuge der Zeremonie beiwohnen. Es war auch ein Geschenk an diesen Weißen, der Teil des Stammes geworden war.
Eine handvoll Leute war anwesend sowie eine kranke Frau. Sie hatte Schmerzen in der Brust, die sie schon lange peinigten. Zu Rate gezogene Ambulanz hatte ihr nicht helfen können. Der Schamane entkleidete sie, bevor er mit seiner Arbeit begann. Er hatte einen dichten Bart, sonst nichts am Körper. Nun begann unter Gemurmel, merkwürdigen Lauten und wie bei einem Selbstgespräch eine Massage der Patientin im betroffenen Bereich im oberen Brustkorb. Als die Frau vollkommen entspannt war, begann der Mann die schmerzhafte Stelle zu saugen. Es dauerte zunächste eine Weile, dann präsentierte der Mann ein Knäuel aus Kupferdraht. Er fuhr fort, stark an der Stelle zu saugen und brachte danach das Projektil aus einer Pistole zum Vorschein. Dann fuhr er fort. Johnny war perplex. Es konnte kein Trick sein, denn der Schamane war ohne jedes Untensil gekommen und hatte kein Kleidungsstück am Körper, kein Tuch oder Gegenstand in Händen, mit denen ein Taschenspielertrick erklärbar würde. Der Frau ging es hinterher gut und Johnny bekam die insgesamt vier Artefakte geschenkt. Ich hatte diese Gegenstände oft in Händen und bin völlig überfordert, dies zu beurteilen. Johnny hob sie 30 Jahre lang wie eine Reliquie auf, sie hatten eine gewisse Patina und wirkten ob ihres Materials und Zustandes völlig unexotisch.
Eigentlich wurden die Aboriginals seit den 20er Jahren systematisch sowohl aus dem Lebensraum vertrieben, als auch die Familien auseinander gerissen. Christliche Missionsstationen hatten den Zweck, die urbane Lebensweise wie eine Gehirnwäsche zu vermitteln. In den 50ern wurden etliche Jahrgänge von Säuglingen den Müttern weg genommen, in weiße Familien gegeben oder in Heimen “weiß” erzogen.
Dann wurde bewußt, daß so nur Elendsviertel, Slums und Ghettos gezüchtet wurden. Die sogenannte “Stolen Generation” wurde zum großen Problem. Menschen wie Leni nahmen sich solcher Menschen an, sie zog schließlich in die Wüste. Ihr Freund Steven Guth hatte in den ersten Jahren nach seinem Sozialwissenschaftsstudium jahrelang Inerviews geführt mit solchen Menschen, die nun wieder “heimgebracht” werden sollten. Dieses Projekt ist heute noch nicht beendet, die Sozialfälle sind bis zu ihrem Lebensende meist nicht mehr zu therapieren.
Auf diesem Hintergrund dürfen wir nun Bestseller lesen wie Traumfänger von Marlo Morgan. Das Buch wurde durch Intervention der schwarzen Communities in Australien verboten. Sie fühlen sich benutzt und mißbraucht durch diese romantische Lügengeschichte. Steven Guth hatte von Anfang an damit zu tun. Eher durch einen Zufall, sollte er einen Text beurteilen, den ein amerikanischer Psychiater zur Begutachtung geschickt hatte. Seine schizophrene Patientin war nachweisbar nie in Australien und erklärte, sie habe dort eine Geschichte erlebt. Ob das wenigstens realistisch sei und vielleicht einen Roman abgeben könnte. Steven verwarf die Story als absurd. Vom ersten Satz an war ihm klar, daß die Frau keine Ahnung hatte. Er warnte den Therapeuten, das könne Probleme mit den Ureinwohnern geben. Nun ist der Bestseller ein Selbstläufer geworden, die Wahrheit der Aboriginals aber blieb für lange Jahre auf der Strecke.
Begegnen wir nun Peasleys beiden “Letzten Nomaden”, so erfahren wir als allererstes etwas über die Stammesstruktur. Die Gesellschaftliche Teilung in vier Clanverbände, die untereinander nach einer strengen Regel heiraten dürfen/müssen, ordnet das soziale Leben und die Begenung von Männer und Frauen. Es gibt keinen Besitz zu verwalten, sondern als höchstes Gut die Gesundheit des Stammes. Das ist bereits 30.000 Jahre altes Wissen und hat diese Kultur ohne jeden heutigen medizinischen Standart überleben lassen. Das wäre bei einer Ernährung ohne Zucker und Weißmehl und mit sehr wenig Fleisch zwar sowieso kein Wunder.
Die vier Grade der Beziehungsoptionen, lassen an das Quadrantensystem Ken Wilbers denken. Das möchte ich nicht ausführen, jedoch darauf verweisen. Mit den vier Elementen oder astrologischen Qualitäten könnten die Analogien sicher ebenfalls hergestellt werden. Was mich hier mehr interessiert hat, ist die eindeutige Tatsache, daß diese Völker keine festen Wohnplätze besitzen, geschweige denn Siedlungen. Dies ist wohl der eindeutigste und krasseste Unterschied, der sie noch von Neuguinea, Indios und Maori unterscheidet. Offensichtlich wird jedoch dadurch, daß wir Städtebewohner, wir Urbane, wohl Antipoden sind.
Darf ich einmal süffisant fragen, wo wir uns überhaupt unterscheiden außer durch Technik, die Infrastruktur, den Besitz? Im Sozialen haben wir die uns gemäßen Normen analog zur oben genannten Clanstruktur und Heiratsregeln als der obersten Gebote. Es gibt eine Sprache, Grammatik, Wortschatz. Dazu kommen andere Verbindlichkeiten, die das Leben regeln, aber auch Verbote, die das Individuum schützen und Sanktionsmaßnahmen. Es gibt keine Wissenschaft, aber für den Fremden wird als Zeichen abstrakten Denkens und intelligenter Beschäftigung schnell der Witz auffallen. Sie lachen gerne und erzählen Geschichten.
Die gar nicht süffisante Antwort ist: Es gibt keinen Unterschied, weil die soziale Qualität den gleichen Standart aufweist wie der in den Urbanen Gesellschaften. Sicherheit des Einzelnen, gesunde und komfortable Struktur in der Gruppe, Abgrenzung nach Außen um eventuellen Feinden zu begegnen. Auf diese Grundeigenschaften müßte der Begriff Zivilisation reduziert werden, denn das ist eine soziale und soziologische Frage und keine der Technik und Infrastruktur.