Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel - Buch 2
von advaitaMedia -
Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel, Zweites Buch von G. I. Gurdjieff
Gurdjieffs zweiter Band lässt sich für mich schwerfälliger lesen, soviel steht zu Beginn fest. Geht es im ersten Teil noch um mythische und sagenumwobene Themen, wie Atlantis mit den lichtvollen Einblicken in ihr Denken und Handeln, so herrscht im zweiten Band von Beginn an eine Schwere vor, wenn es um die ersten moderneren Zivilisationen, die Römer und die Griechen, geht.
Laut Gurdjieff brachten uns die Griechen vorallem zweifelhafte Klügeleien, Wissenschaften und Sport, die allesamt den Verstand degenerierten. Die Römer brachten die Sittenlosigkeit, die das organische Schamgefühl des Menschen für immer unterwanderte. Da sich Römer und Griechen zu Friedenszeiten auch noch austauschten, entstand seiner Meinung nach ein folgenschweres Gebräu für alle nachfolgenden Generationen:
„...somit brachten es diese ,Erfindungen‘ jener zwei alten Gemeinschaften es nach und nach dahin, dass zur Jetztzeit die Psyche deiner Lieblinge (gemeint sind die Menschen) … so schwankend geworden ist, dass sowohl ihre ,Weltanschauung‘ als überhaupt die ganze Einrichtung ihrer gewöhnlichen Existenz ausschließlich auf der Basis jener zwei besagten Erfindungen der Wesen jener ,griechisch-römischen‘ Zivilisation beruht und vor sich geht, nämlich auf der Basis des Phantasierens und des Strebens nach sexueller Befriedigung.“ (S. 451)
Beelzebub dringt in seinen weiteren Erklärungen neben der oben erwähnten kollektiven Schicht noch tiefer in die menschliche Prägung ein. Er geht soweit, den menschlichen Organismus mit einer aufziehbaren Uhr zu vergleichen. Durch erbliche Faktoren und andere prägende Gegebenheiten wird der Mensch mit Assoziationen in seinen drei Gehirnen angefüllt. Erschöpfen sich diese Assoziationen, ist die Uhr abgelaufen.
So auch der Mensch. Synonym für Gehirn verwendet Gurdjieff den Begriff Zentrum. Er unterscheidet bekanntermaßen ein Bewegungszentrum (Lokalisierung im Rückenmark und Nervenknoten), ein Gefühlszentrum und ein Denkzentrum. Alle drei Zentren haben ihre eigenen Assoziationen durch früh-prägende Ereignisse und können sich auch ungleich abnutzen.
Übermäßiger und zum Selbstzweck verkommener Sport nutzt das Bewegungszentrum einseitig ab, sodass neurologische Erkrankungen folgen können (natürlich sollte man sich vor zu groben Verallgemeinerungen in Acht nehmen!). Mechanisches Lesen und Denken nutzt das Mentalzentrum ab - Demenz kann folgen. Wenn ein Zentrum abgenutzt ist, stirbt dieser Teil ab.
Der Mensch kann in Dritteln sterben! Diese Tatsache nahe kommen zu lassen, erschüttert mich gründlich. Es ist wieder ein Moment, indem ich mich frage: „Was tun wir, was tue ich eigentlich hier in dieser Welt? Was will ich noch alles erfahren, nur um mehr und mehr zu wissen, was dem Menschen verloren gegangen ist? Und doch kann ich erstmal nichts weiter tun, als dem zuzuschauen. Doch was können wir dagegen tun?“
„Sich-nicht-solchen-Assoziationen-hingeben,-die-aus-dem-Funktionieren-nur-eines-der-Gehirne-stammen“ (S. 473). Dies ist in Gurdjieffs Sprache das, was wir tun können. D.h. ich fühle, was ich denke, ich fühle, was ich tue, ich fühle, was ich hier gerade lese. So einfach es klingt, so schwer ist doch die Umsetzung und das Geschehen lassen dieser einfachen Anweisung.
Doch gerade dies könnte wieder breitere Erlebnisqualitäten unseres Daseins eröffnen. Wie viel haben nicht schon, ohne Dinge zu hinterfragen, eingebüßt. Allein wie viele Nuancen mehr wir hören, sehen und riechen könnten, davon berichtet das Kapitel ,Kunst‘ nämlich noch ausführlicher. Die Abstufungen von Farben und Tönen reichten an die Tausende ran - für heutige Verhältnisse gar nicht mehr vorstellbar. Es scheint, als gäben wir uns traurigerweise mit immer weniger zufrieden und merken noch nicht einmal, dass diese falsche Zufriedenheit ein einziger Selbstbetrug ist.
Weiter berichtet Beelzebub von seinem sechsten und letzten Verweilen auf dem Planeten Erde und auch da mangelt es ihm nicht an scharfer Kritik - beispielsweise am Berufsstand der sogenannten Doktoren.
„Bei den meisten gegenwärtigen Ärzten erscheint sogar auf ihrem Gesicht durch diesen Geruch (von Geld, Anm. d. Verf.) ein sogenannter ,speichelleckender‘ Ausdruck und ihr geschorener Schwanz presst sich ganz eng, fast wie angeklebt, zwischen ihre Beine.“ (S. 576)
Und er zitiert Mulla-Nassr-Eddin:
„Um unserer Sünden willen hat Gott uns zwei Arten von Ärzten geschenkt: - die einen, die uns helfen zu sterben, und die anderen, die uns hindern zu leben.“ (S.592)
Diese zwei Beispiele sollten reichen, um aufzuzeigen, dass die Probleme der heutigen Medizin keineswegs neu sind. Dass die Medizin ihrer eigenen Arroganz zum Opfer fällt, sie müsse und könne alle von ihr selbstdefinierten Mängel des Menschen beseitigen, ohne überhaupt die Verhältnismäßigkeit zu sehen, ob derjenige Mensch diese Hilfe wirklich für sein Heilsein benötigt oder nicht.
Beim Thema Hypnotismus gibt es dann zu lesen, was ich ja von Gurdjieff erhoffe, einen Blickwinkel auf das menschliche Funktionieren zu bekommen, der sonst nicht zugänglich ist. Wenn geschrieben steht, dass Hypnose nur bei den Menschen auf Erden funktioniert, so ist dies sicher eine Anspielung darauf, dass sich ein Teil des menschlichen Bewusstseins eben krankhaft abgespalten hat, aber dass dieser Zustand keineswegs der Normalzustand von vernunftbegabten Wesen, wie unserer Spezies, sein sollte.
Unsere Natur hat sich aber inzwischen so grundlegend an diese zwei Bewusstseinszustände angepasst, dass ab einem gewissen Alter sogar zwei verschiedenartige Blutkreisläufe vor sich gehen. (S.600) Je nach vorherrschendem Blutkreislauf ruft dieser den entsprechenden Bewusstseinszustand hervor. Im Wachzustand entsteht der ,Schwerpunkt des Blutdruckes‘ in einem anderen Teil, als im passiven Zustand. Auch wenn Beelzebub sich zumindest im Buch als Manipulator dieser Blutkreisläufe betätigt, so schweigt er sich doch über den Namen des Verfahrens, sowie über die genaue Vorgehensweise aus - schade.
Die weiteren Schauplätze des Buches geben zweifellos Gurdjieffs eigene Erlebnisse in seiner Wirkzeit auf Erden wieder. Der Leser versäumt nicht zu erfahren, warum der Russe am besten mit einem Truthahn verglichen werden kann, der Perser mit einer Krähe und der Europäer mit einem Pfau. Engländerinnen und Amerikanerinnen müssen dagegen für ihre Kurzhaarmode einen teuren Preis zahlen... und für deutsche Leser gibt es im Kapitel ,Noch ein wenig mehr über die Deutschen‘ noch ein besonderes Rätsel zu lösen, doch das kann jeder selbst herausfinden.
Somit nimmt Beelzebub uns mit auf eine Reise, die Gurdjieffs eigene war, mit all den Teachings, die ihm zuteil wurden.
Wirklich „beelzebubig“ wird es im Kapitel ,Frankreich‘, als Beelzebub eine Situation beschreibt, wo er in einem französischem Lokal gerade ohne Begleitung ist und sich Gedanken über den Zustand der Gesellschaft seiner unmittelbaren Umgebung macht. Er verspürt echte Empörung. Parallelen zu seinen früheren Besuchen auf der Erde tauchen auf. Er sieht genau die gleichen Geister, dieselben menschlichen Fehlentwicklungen - aus seiner Sicht - wie sie sich schon in Babylon und anderswo zeigten.
Es ist bei diesen Zeilen eine gewisse Resignation zu spüren. Eine Resignation darüber, dass die generelle Vernunft und das ursprüngliche Potential des Menschen, selbst von den höchsten gesandten Menschen des Allerheiligsten Vaters, in all den Versuchen über Jahrhunderte noch nicht weitreichend verwirklicht werden konnten, dass sie in der Psychose der Masse untergingen.
Beelzebub drückt dies als Fehler einiger allerhöchster heiliger Individuen aus - dem Menschen das Organ „Kundabuffer“ eingepflanzt zu haben, und auch dies geschah nur, da ein unvorhergesehener Kometeneinschlag auf den Planeten Erde traf. (siehe dazu: Rezension zum ersten Teil)
Diesen Abschnitt zu lesen, rüttelt in mir einen Grundkonflikt wach. Auch in mir gibt es immer wieder Gedanken, dass doch irgendetwas falsch läuft, dass die Welt einfach zunehmend verflacht. Gleichzeitig befinde ich mich auf einem inneren Weg, der eben auch ein Weg der Hingabe ist. Dann komme ich mir vor, als würde ich immer nur zuschauen, wie es eben in Deutschland schon öfters passiert ist.
Zuschauen, weil ich es die Dinge annehmen möchte, wie es ist sie sind, doch gleichzeitig gibt es da eben auch diese Gedanken, die endlich mal ausposaunen möchten, dass das doch wirklich nicht geht!
Dieses Thema hat mehrere Ebenen und vielleicht ist eine davon, dass es tatsächlich in mir einen erwachsenen Teil gibt, der bis jetzt im Hintergrund war und meinen eigenen, kindlichen Spielen noch ungenügend zeigte, dass es reicht! Für den Leser mag es ganz individuelle Bedeutung haben.
Doch zurück zum Buch. Heiß ersehnt hatte ich auch das Kapitel ,Religion‘ erwartet - und wurde wieder ernüchtert. Als eines der größten Schwierigkeiten der Religionen prangert Beelzebub das Vermischen echter Aussagen der von oben Gesandten mit eigendünkelnden Auslegungen und beigemengten Ideen von begrenzten Menschen an, die alles dann in eine verwässerte Religionsschrift zusammenfassten. Die Vermischung mit politischen Motiven der jeweiligen Zeit sorgten für weitere Verzerrungen der eigentlichen Aussage.
Gleichzeitig fingen andere Menschen an, „wie-Krähen-am-Aas-eines-Schakals-herumzupicken“ (S.745) und die ursprüngliche Religion zerfällt sogleich in Sekten, die sich wiederum in weitere Sekten teilen usw. Und was lernen wir daraus? Es hilft wieder nur der eigene, innere Erfahrungsweg, um zum Kern der Religion zurück zu gelangen.
Nichtsdestotrotz ist Liebe zu spüren, wenn Beelzebub über Botschaften der heiligen Individuen Mose, Jesus, Mohammed, Buddha und den Lama schreibt. Zu dem ungewöhnlichsten Lesestoff zählt sicherlich die fehlgeschlagene Übertragungskette der Lehren des heiligen Lama und in dem Zusammenhang bekommt der Leser auch eine alternative Sicht, was das Abendmahl eigentlich für eine Zeremonie war und welche Rolle Judas Iskariot dabei spielte.
Zusammenfassend sieht er jedoch keine Religion als wirklich rückbindend für unsere Zeit an, so dass diese Ansicht wohl zur Schaffung des Systems des Zeugnis dieses Systems beschrieb einer seiner langjährigsten Schüler, P.D. Ouspensky in dem Buch ,Der Vierte Weg‘ - siehe Rezension)
Wenn Gurdjieff einmal zum Schreiben ansetzt, dann vermischt sich tiefes, kosmisches Wissen mit scheinbar trivialen Kenntnissen. Er zeigt damit, dass das Höchste nicht vom Niedersten getrennt ist, beispielsweise, wenn er den Brauchtum der Sauna erläutert.
Das Interessante ist, dass sich Beelzebub dabei nicht in Unwesentlichkeiten verzettelt, sondern stets über das berichtet, was den Menschen nützlich oder verderblich war, bzw. noch ist, oder auch noch werden könnte. Er regt an, die für mich selbstverständlichsten Dinge zu hinterfragen und wirklich an mich ranzulassen.
So beispielsweise den menschlichen Grundkonflikt zwischen seinen ,Seinskörpern‘. Der grobstofflichste (physische) Körper des Menschen steht dem höchsten Seinskörper entgegen. Asketische Traditionen beschäftigten sich nicht umsonst mit der Überwindung des grobstofflichen Körpers, um innerlich Befreiung zu erlangen.
Auch ich würde manchmal gern auf alles verzichten, doch natürlich meldet sich dann schnell mein Körper und zeigt mir, wo ich eigentlich stehe. Die natürlichen Bedürfnisse des Körpers sind so etwas wie der Prüfstein für mich, ob mein Menschsein im Einklang ist oder nicht.
Die meisten persönlichen Leidensepisoden sind darauf zurückzuführen, dass ich meist höher hinaus wollte, als ich momentan konnte - und das ist sicherlich auch gesellschaftlich eher die Norm, als die Ausnahme.
Ja, wem das alles noch nicht reicht, dem gibt Beelzebub noch Einblicke dahin, warum es dünne und fette Mönche gibt, warum unser Weltall so eingerichtet ist, dass wir alle voneinander abhängen und er schildert sogar, was mit den Körpern des Menschen während des ,heiligen Raskuarno‘ - dem Moment des Todes - passiert.
Beim Lesen stellt sich mir wieder die Frage: „Muss ich das wissen? Bringt mich das auch nur irgendein Krümel der Aussagen auch nur einen Deut weiter?“ Ich fühle mich meilenweit entfernt vom Verständnis des Buches und genau das macht aber auch seinen Reiz aus - sich einem Verständnis anzunähern. Es ist geschrieben, um enträtselt zu werden - so ist es das Schicksal aller großen Schriften, dass sie wohl nur von Wenigen wirklich erfasst werden können - aber nichtsdestotrotz einen Großteil der Menschen inspirieren und zum ernsthaften Reflektieren verhelfen.
Ich bin also noch lange nicht fertig und gespannt, was mich im dritten und letzten Band erwartet.
Zum Schluss noch eine sinngemäße Empfehlung von Gurdjieff an den Leser: „Begnüge dich nicht mit dem, was jemand einmal bewusst oder unbewusst in dich hineingelegt hat.“ (S. 733)
Leser von advaita Media, Ben Albrecht, 14.03.2019
Hier mehr interessante Artikel rund um das Thema "Spirituelle Lehrer und Autoren" von advaitaMedia.