2,7 Sekunden Gegenwart …
…und die „Möwen vom Berg Athos“
von Viktor W. Ziegler -
„Der unendlich kurze Augenblick der Gegenwart ...“,
… nennt Paul Watzlawick „die ewige Gegenwart“. Wie wirklich ist sie wirklich? So wie unsere vermeintlich bewusste Wahr-Nehmung? Zeitverzögert? Wir glauben, dass die Zeit in unserem Leben kontinuierlich „dahin fließt ...“.
Auch das ist eine von vielen Illusionen, denen wir unterliegen.
Die Wissenschaft hat nämlich festgestellt – und kann dies beweisen – dass unsere bewusste Zeitwahrnehmung nicht ohne Unterbrechung fließend ist, sondern in einer unendlichen Vielzahl an „Einzelbildern“ vom Bewusstsein aufgenommen wird. Unser „Lebens-Film“ besteht somit aus bewusst wahrgenommenen Bildern mit einer Dauer von unter drei Sekunden. Der Münchner Hirnforscher Ernst Pöppel berechnete unsere bewusste Wahrnehmungsdauer mit 2,7 Sekunden, in denen unser Gehirn unentwegt fragt: „Was gibt es Neues?“, um die Eindrücke als fortlaufenden Film zu speichern und an das Unterbewusstsein, die „geistige Festplatte“ unseres Gehirns, weiterzuleiten.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass auch der umgangssprachlich verwendete Begriff vom „Augenblick“ erwiesenermaßen mit diesen 2,7 Sekunden übereinstimmt.
Ganz gleich, ob wir nun jemand die Hand schütteln, einen Schluck Wein genießen oder uns in Versmaßen oder Rhythmen üben.
Alles dauert 2,7 Sekunden!
Schlussfolgerung:
Unsere Gegenwart besteht aus einer unendlichen Reihenfolge an Eindrücken von 2,7 Sekunden. Wie bei einem auf Celluloid gebrannten Film entsteht der Eindruck der Kontinuität dadurch, dass die aufeinander folgenden Informationen des „Was gibt es Neues“ miteinander verbunden sind.
Nur in extremen Krankheitsfällen, wie zum Beispiel der Schizophrenie, wird dieser „Lebens-Film“ unterbrochen, und mit nicht zusammenhängenden Bildern zerstückelt gezeigt.
Die Möwen vom Berg Athos
Den berühmten Film „Die Möwe Jonathan“ werden Sie bestimmt kennen.
Diese herrlichen Flugaufnahmen und tief gehenden Gedanken einer Möwe auf der Suche und dem Streben nach Perfektion und Unendlichkeit. Und die traumhafte Musik von Neil Diamond...
Dieser Film, ich habe ihn schon unzählige Male gesehen, mit seinen bei mir erweckten Gefühlen kommt immer aus meinem „emotional memory“, meinem „Gefühlsgedächtnis“ aus dem Unterbewusstsein, wenn ich meine jährliche Pilgerwanderung in die Mönchsrepublik am Heiligen Berg Athos in Nord-Griechenland mache.
Nicht nur, dass jedes Mal, wenn eines der Fährschiffe, die „Panteleimonos“ z.B im griechischen Hafen von Ouranopolis Richtung Dafni, dem „Ankunftshafen“ am Agion Oros, dem „Heiligen Berg“, ablegt, eine Möwe („Balthasar“ nenne ich sie) sich auf den Fahnenmast vorne am Schiffsbug vor die wehende, gelb-schwarzen Flagge der griechisch-orthodoxen Kirche setzt.
Um dann mit uns fast bis zum Ankunftshafen mitzufahren ... und danach wieder nach Ouranopolis zurückzufliegen.
Viel beeindruckender noch sind die stets unser Boot begleitenden Möwen-Scharen. Sie wissen, dass ihnen die Pilger Futter zuwerfen: Brotkrümel, Kekse …
... und sie haben eine Meisterschaft entwickelt, diese in der Luft aufzufangen, im Sturzflug wie die Möwe Jonathan im Film, oder, was noch faszinierender ist, aus den Händen von Pilgern das hingehaltene Futter zu picken, um danach, Augenblicke später, sich wieder in ihre himmelhohen Gefilde aufzuschwingen.
Augenblicke sind es nur. Bilder von 2,7 Sekunden Dauer. Ein unvergessliches Schauspiel und wohl anschaulicher Beweis für die kurze Zeitspanne unserer Aufmerksamkeit, aus der sich das Jetzt, die Gegenwart, der Augen-Blick, zusammensetzt.
Herzlichst Viktor W. Ziegler
©Viktor W. Ziegler
Aus dem Buch „Frei-willig! Die Macht unseres freien Willens. Vom „Müssen“ zum „Wollen“. Wie wir bewusst unser Leben bestimmen können.“
EditionVICART, 2012, 324 Seiten, div. Abbildungen.