In dem Moment wo Krankheit auftritt, ist das System heil.
von Oliver Unger
Die Frage, der wir uns hier gewidmet haben lautet: „Kann es einen absolut gesunden Organismus geben, der jeden Stress, jede Belastung gut verkraften kann, ohne dass die Person davon beeinträchtigt wird?“
Auf dem Weg dorthin, Krankheit zu erforschen, begegnet man vielen Stationen, vielen Ansätzen, Denkweisen. Die Beschäftigung mit Krankheit regt einen Selbsterforschungsprozess an, der uns an unsere Grenzen bringen kann.
Die Thesen lauteten bisher:
Das System nimmt „Abgespaltenes“ wieder zu sich und benutzt dafür eine Ebene, in der es erlaubt ist. Ist die mentale Ebene versperrt, das Abgespaltene wieder zu integrieren, benutzt der Körper die fühlbare Ebene. Meist äußert diese sich als Schmerz. Diese Integration auf einer anderen Ebene ist eine Verschmelzung eines körperlichen Symptoms (Schmerz oder Dysfunktion) mit Folgen für die Psyche. Diese Einheit ist Heilung. Ohne Krankheit keine Heilung. Krankheit und Heilung sind ein und dasselbe.
Um es leichter fassbar zu machen, stell dir vor, jede Krankheit sei eine Zwischenstation auf dem Weg zur Heilung. Den gleichen Sachverhalt drücke ich in meinem Sprachgebrauch folgendermaßen aus: Krankheit ist die Folge des Versuchs des gesamten individuellen Systems und des Gruppensystems der Person, sich so gut wie möglich zu heilen. In dem Moment, wo Krankheit auftritt, sind die Systeme heil.
Man könnte sagen, sie sind so heil, wie sie gerade können, doch das nimmt der Wahrheit etwas weg, das sehr wesentlich ist. Denn mit einer solchen Aussage fühlt sich unser menschlicher Wille angeregt, etwas „besser“ zu machen, noch mehr für die „Gesundung“ zu tun, willentlich „mehr Bewusstheit“ hineinzubringen. Und das ist der falsche Weg.
Dieser Weg, diese Art zu denken, brachte die Wirren hervor, denen die Schulmedizin heute hinterher rennt. Leistung ist nichts, das man mit Krankheit oder Heilung in Verbindung bringen sollte. Ebenso wenig wie „etwas richtig oder falsch machen“. Krankheit verliert erst dann ihren Schrecken, ihren Beigeschmack von Strafe oder Selbstbestrafung, wenn du dir vorstellst, dass sie einverstanden ist mit der Gesundheit des Systems. Sie ist Bestandteil eines gesunden Systems.
Erst durch eine Krankheit befinden wir uns also in einer besseren Gesundheit als wir sie zuvor hatten. Physiologisch möchte ich diese These nicht begründen, denn rein auf der körperlichen Ebene entstehen durch Krankheit manchmal Schäden, die irreversibel sind. Man denke an das Diabetiker-Bein, das vielleicht amputiert werden muss oder daran, dass Frauen ihre Brüste verlieren. Da wächst körperlich oft genug nichts nach.
Doch eben dieses Nicht-Nachwachsen ist dann richtig und gesund. Manchmal gibt es Entzündungen im Körper, die Verwachsungen zur Folge haben ebenso wie eine Einschränkung der Organfunktion – wie dies bei den Herzklappen der Fall sein kann, z.B. nach einer verschleppten Mandelentzündung. Und auch diese Folgen sind Ausdruck der neu entstandenen Einheit. Denn ich sprach hier von einer Gesundheit der gesamten Persönlichkeit und ihres Systems und nicht des Körpers allein.
Bei der Betrachtung von Menschen halte ich Körper, Geist, Seele und ihr Umfeld im Blick. So kann es sein, dass die Krankheit vielleicht Teile des Körpers beeinträchtigt hat, doch auf einer Verhaltensebene stehen auf einmal neue Möglichkeiten zur Verfügung. Das Körperteil, die Körperfunktion hat sich „transformiert“ zu einer Eigenschaft, einer Fähigkeit. (Diesen Prozess kann man nicht künstlich herbeiführen, z.B. operativ!).
Der kausale Zusammenhang ist meist unsichtbar, doch zu erkennen ist der zeitliche Zusammenhang. Diesen kann man nicht wegdiskutieren und auch nicht „wegbeweisen“.
Wie bereits beschrieben, stehen den Patienten auf einmal Möglichkeiten zur Verfügung, für die andere Menschen eine jahrelange Therapie besucht haben, wie z.B. spontanes Nein-sagen, den Mut für eine Trennung vom Partner, den Mut, seinen Beruf aufzugeben und sich anderen Dingen zu widmen und ... und ... und ... Jene neuen Fähigkeiten sind der Seele der Person sehr nützlich und zuträglich, wenn auch für das Umfeld zunächst nicht unbedingt angenehm.
Im Gruppensystem hat es diese Fähigkeiten in Form einer unbewussten „Energie“ oder als „Feld“, „Nebel“ immer schon gegeben. Doch durch irgendwelche Gründe waren sie nicht erlaubt. In einer Art unbewussten Abkommen mit dem früheren Kranken (so wie ich den Kranken verstehe), wurden diese Fähigkeiten lieber im Schleier der Unbewusstheit gehalten. Jetzt erscheinen sie. Sie wollen wie ein aufgehender Same ans Licht kommen, damit das Gruppensystem – endlich – gesund wird. Sie waren ja immer schon angelegt, doch jetzt wo sie ans Licht kommen, dienen sie der Vollständigkeit des Systems.
Man könnte auch sagen, sie manifestieren sich, bekommen eine Form.
Krankheit ist also auch ein Manifestierungsprozess. Ein Schleier, ein Nebel, etwas Unbewusstes wird zu einer „Masse“, anfassbar, erklärbar, spürbar.
Teil 7 „Krankheit im Familiensystem“ folgt kommende Woche.
Herzlichst Oliver Unger